Essen. Im Halbfinale der EM hat sich Bundestrainer Joachim Löw bei der 1:2-Niederlage gegen Angstgegner Italien verkalkuliert. Mit der Hereinnahme von Toni Kroos hat er sich genau so wenig einen Gefallen getan wie mit der von Lukas Podolski. Eine taktische Analyse.

Deutschland ist nach der 1:2-Niederlage gegen Italien aus der Europameisterschaft ausgeschieden. Das große Ziel, der Titel, bleibt wieder einmal unerreicht. Nach dem dritten Platz beim „Sommermärchen“ 2006, dem Vizetitel 2008 und einem weiteren dritten Platz bei der WM 2010 in Südafrika stolperte die Nationalelf nun erneut auf der Zielgeraden.

Wenig Chancen, keine Durchschlagskraft und etliche Bälle ins Nichts: Nicht wenige fragten sich nach Donnerstagabend: Was war los mit der deutschen Nationalmannschaft? Ganz einfach. Sie war taktisch suboptimal eingestellt. Und diesen Schuh muss sich nun mal der Bundestrainer anziehen. Nach drei überraschenden Umstellungen gegen Griechenland (Marco Reus spielte für Thomas Müller, Andre Schürrle für Lukas Podolski und Miroslav Klose für Mario Gomez), die deutlich Wirkung gezeigt hatten, verfiel Löw gegen Italien wieder in alte Muster, schlimmer noch, er passte sich dem Gegner an: Gomez spielte für Klose, Podolski für Schürrle. Die dritte und letzte Änderung war allerdings die entscheidende: Löw verzichtete auf Reus sowie Müller und brachte Toni Kroos.

Vier Zentrale auf dem Platz

Mit Sami Khedira, Bastian Schweinsteiger, Mesut Özil und eben Kroos standen nun also vier zentrale Akteure auf dem Platz. „Ich wollte die Zentrale mit Kroos stärken“, argumentierte Löw. Das Resultat sah anders aus: Jerome Boateng, seines Zeichens gelernter Innenverteidiger, war komplett auf sich allein gestellt. Die rechte Seite war offensiv praktisch tot und defensiv anfälliger denn je. Khediras Versuche, Boateng in der Vorwärtsbewegung zu unterstützen, verpufften. Auch wurde die Zentrale keineswegs gestärkt. Insgesamt spielten Kroos und vor allem Schweinsteiger viel zu verhalten, attackierten zu spät und wirkten offensiv oft ratlos. Özil fand keine Anspielstationen. Wie denn auch? Gegen Griechenland machte Özil sein bestes Turnier-Spiel. Dabei wurde er von den Außen Schürrle und Reus mustergültig unterstützt. Immer wieder taten die beiden mit ihrem unwiderstehlichen Antritt Lücken auf. Folglich hatte Özil mehr Platz, konnte den Pass in die Tiefe spielen oder selbst in die neu gewonnenen Räume vorstoßen.

Dieses Szenario konnte man im Italien-Spiel höchstens in der Anfangsphase der zweiten Halbzeit auf der rechten Seite mit Marco Reus beobachten. Der Bald-Dortmunder wurde wie Klose in der 45. Minute für Podolski und Gomez eingewechselt. Doch mit der Hereinnahme von Reus wurde das Loch nicht gestopft, sondern lediglich vom rechten auf den linken Flügel verlagert. Denn nach wie vor standen vier zentrale Mittelfeldspieler auf dem Platz. Somit wurde jeweils eine Außenbahn fast über die gesamten 90 Minuten hinweg vernachlässigt.

Was hätte Löw besser machen können? 

Italien hat schon im ersten Gruppenspiel gegen Spanien bewiesen, dass es in der Lage ist, durch eine disziplinierte und taktisch perfekte Leistung den Platz des Gegners im Mittelfeld auf ein Minimum zu reduzieren. Die Spanier hatten es uns doch vorgemacht, wie es gegen die „Squadra Azzurra“ gehen kann – und wie nicht. Die ganze Welt wurde Zeuge, dass selbst für den Welt- und Europameister Spanien durch die Mitte kein Durchkommen war. Erst mit der Hereinnahme von Flügelflitzer Jesus Navas wurde die „Seleccion“ gefährlich.

Löw hätte gut daran getan, genau dies zu erkennen. Stattdessen versuchte er, die Zentrale auf Kosten der Außenbahnen zu stärken. Ein Fehler, der eiskalt bestraft wurde. Mit Spielern wie Müller, Reus, Schürrle und Götze verfügt Löw über gleich vier Spieler, die in der Lage sind, Eins-gegen-eins-Duelle zu gewinnen, Lücken aufzureißen und den Gegner dauerhaft unter Druck zu setzen. Genau so wäre Italien zu knacken gewesen. Die italienische Defensive ist stark, aber sicherlich nicht die allerstärkste, musste im Laufe des Turniers immer wieder umgestellt werden. Beschäftigt man den Gegner in der Abteilung Abwehr, kommt der dann bekanntlich auch gar nicht erst vor das eigene Tor.

Der Trainer hat sich verkalkuliert

Als ähnlich unglücklich stellten sich die Hereinnahmen von Podolski und Gomez heraus. „Mario hatte vorher drei Tore gemacht. Lukas hatte zuvor auch ein Tor gegen Dänemark erzielt“, untermauerte Löw seine Entscheidung. Während Totalausfall Podolski defensiv wie offensiv viel zu inaktiv war, störte Gomez den Gegner nicht im Aufbau. Dabei spielte gerade Italien viele lange Bälle aus der Abwehrreihe oder aus dem defensiven Mittelfeld. Stört man sie an dieser Stelle früh, finden die eher rustikalen Italiener, mal abgesehen von Regisseur Andrea Pirlo, nur selten ihre Mitspieler. Ein Stürmer der Marke Klose weiß dies und presst daher unheimlich früh gegen den Ball.

Zweifelsohne hat Fußball-Deutschland Joachim Löw unheimlich viel zu verdanken. Hätte der Bundestrainer mit wirklich bemerkenswerten Leistungen in den vergangenen sechs Jahren die Messlatte nicht derart hoch gelegt, die aktuelle Diskussion um sein Wirken wäre in dieser Form wohl niemals zu Stande gekommen. Vor dem Duelll mit Italien war sich der Bundestrainer vielleicht einen Hauch zu sicher. Schließlich gaben ihm seine jüngsten personellen Veränderungen stets Recht. Doch nun, wo ihn sein sonst so sicheres Bauchgefühl einmal trügte, bleibt unter dem Strich die aus deutscher Sicht bittere Erkenntnis: Der Bundestrainer hat sich leider verkalkuliert.