Berlin. Vor anderthalb Jahren kämpfte Christoph Kramer mit dem VfL Bochum gegen den Abstieg in die 3. Liga. Heute darf sich der Gladbacher Weltmeister nennen. Im Interview spricht der 23-Jährige über seine Gesangskünste, seinen steilen Aufstieg und Dinge, die man von Torsten Mattuschka lernen kann.
Die Bar des Grand Hyatt am Potsdamer Platz. Nationalspieler sitzen mit Journalisten an Tischen. Nebenan paffen Gäste im Raucherbereich Zigaretten und schauen verstohlen rüber. Christoph Kramer reicht einem zu Begrüßung die Faust, weil sich der 23-Jährige eben beim Training am Finger verletzt hat. Das passt ganz gut. Der Mittelfeldspieler von Borussia Mönchengladbach wirkt äußerlich wie ein Jugendlicher, aber wesentlich älter, wenn er spricht. Kramer hat eine Menge erlebt in den vergangenen anderthalb Jahren. Vom Abstiegskampf mit dem VfL Bochum in der Zweiten Liga bis in die Startelf der deutschen Nationalmannschaft im WM-Finale. Im gerade erschienen WM-Film „Die Mannschaft“, den Kramer am Montag bei der Premiere sah, sorgt er für eines der wenigen Highlights, als er auf der Fähre zum Einstand für die Kollegen sing. Vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen Gibraltar (20.45 Uhr/LIVE bei uns im Ticker) spricht Kramer über seine Songauswahl, Tagebuch-Einträge über das Finale und ein Interesse von Real Madrid.
Herr Kramer, eine Sache müssen Sie uns erklären: Warum bloß haben Sie einen Song von Ronan Keating zum Einstand bei der Nationalmannschaft gewählt?
Christoph Kramer: Ich stand unter einem fantastischen Sternenhimmel, nach einem 4:0 gegen Portugal, und ich war tatsächlich bei der Weltmeisterschaft. Sagen Sie mir einen Song, der da besser passt als „When you say nothing at all“!
Na ja, Sie sind ein junger Mann, und das ist eine Schnulze.
Kramer: Ich höre privat auch lieber Hip-Hop und Deutsch-Rap, aber das wäre schwer umzusetzen gewesen.
Wobei man Sie als Rapper auch gern gesehen hätte...
Kramer: Das wäre lustig gewesen, aber ich kann nicht rappen. Ich kann nur Herzblut rüberbringen, und deshalb habe ich mich für einen Lagerfeuersong entschieden.
Wie war das für Sie, sich im Kino noch einmal beim WM-Erfolg zuzusehen?
Kramer: Das war ein Wahnsinnsgefühl. Der Film hat bei mir noch einmal die krassesten Emotionen hochgeholt. Es war auch schön, mal alles aus einem anderen Blickwinkel zu sehen – wenn alles vorbei und man nicht mehr so angespannt ist. Im Kinosessel zu sitzen und zu sagen: Meine Güte, das haben wir also geschafft - ein unbeschreibliches Gefühl.
Im WM-Finale haben Sie eine Gehirnerschütterung erlitten und es fehlt Ihnen deshalb die Erinnerung an große Teile des Spiels. Gibt es dennoch etwas, das bei Ihnen vom Finale besonders hängen geblieben ist?
Kramer: Ich habe noch genau vor Augen, wie wir ins Maracana-Stadion eingelaufen sind und dort der WM-Pokal in der Mitte stand. Dann haben wir die Nationalhymne gesungen, und ich hatte eine Gänsehaut am ganzen Körper wie niemals zuvor in meinem Leben. Ich war fast den Tränen nahe. Das ist, woran ich sofort denke, wenn ich mich ans Finale erinnere.
Wie hat sich das angefühlt, als der Bundestrainer zu Ihnen kam und sagte, Sie müssen für Sami Khedira spielen?
Kramer: Mir hat es die Sprache verschlagen. Ich weiß gar nicht mehr, was ich die verbleibenden zehn Minuten bis Anpfiff gemacht habe. Ich glaube, ich bin ein paar Mal hoch und runter gelaufen wie ein aufgescheuchtes Huhn und habe mir eingeredet: Du schaffst das schon! Es ist ja so: Wenn man im WM-Finale einen Fehler macht, der zur Niederlage führt, braucht man erst gar nicht mehr nach Deutschland zurückfliegen.
Seit sieben Jahren schreiben Sie in einem Tagebuch über jedes Ihrer Spiele.
Kramer: Das stimmt. Ist ein ziemlich dickes Buch inzwischen. Aber lustigerweise endet es genau mit dem WM-Finale. Seitdem habe ich damit aufgehört.
Was haben Sie über das Finale geschrieben?
Kramer: Normalerweise habe ich eher so Zehnzeiler geschrieben, aber bei diesem Spiel viel mehr, weil es so ein besonderer Moment für mich war und das Buch damit endete. Ich habe über den Weg vorbei am WM-Pokal und über die Pokal-Übergabe geschrieben. Im ganzen Buch steht nicht, so oder so haben wir gespielt und ich war so oder so. Vielmehr sind es kleine Beobachtungen und Gefühle, die ich mir notiere.
Eine Erinnerungsstütze sozusagen...
Kramer: Ganz genau. Das Buch liegt jetzt in einem Safe in der Bank, und in dreißig Jahren hole ich es raus und setze mich damit auf eine Bank in meinem Garten. Dann kann ich mich noch einmal so fühlen, wie damals als Weltmeister mit 23. Darauf freue ich mich schon jetzt.
Kommen Ihnen die vier Monate seit dem WM-Finale lang oder kurz vor?
Kramer: Die kommen mir unglaublich lange vor. Der Alltag hat einen schnell wieder. Es geht sofort weiter: Bundesliga, Europapokal usw. Ich habe eigentlich kaum Zeit, mal über das Gewesene nachzudenken und darüber glücklich zu sein, dass ich Weltmeister bin. Das ist ein bisschen wie nach einem Urlaub. Schon nach ein paar Tagen hat dich der Alltag wieder voll im Griff.
Finden Sie diese Rastlosigkeit nicht schade?
Kramer: Ich finde es sehr schade. Ich mache es deshalb so, dass ich mich manchmal einfach irgendwo hinsetze und bewusst versuche, zu genießen, was ich erreicht habe. Das hat nichts damit zutun, dass ich satt bin. Aber man kann nicht sein ganzes Leben lang nur laufen, laufen, laufen. Man muss auch mal stehen bleiben und sich darüber freuen, was das für ein wunderbares Leben ist, das man führt. Denn ich hatte eine Menge Glück.
Kramer über seine Karriere: "Rückkehr zu Bayer ist absolut eine Option"
Glauben Sie an so etwas wie Schicksal?
Kramer: Jein. In den guten Situationen ja, in schlechten nicht.
Wenn man Ihre Vita sieht, vor anderthalb Jahren noch in der Zweiten Liga gegen den Abstieg gespielt und nun Weltmeister, dann kann man schon glauben, dass Sie vom Glück geküsst wurden.
Kramer: In jeder Fußballkarriere ist es so: Ein Drittel ist Talent, ein Drittel Wille und ein Drittel Glück. Ich habe viele getroffen, die mehr Talent hatten als ich. Viele hatten auch mehr Willen als ich. Und viele hatten mehr Glück. Aber wenn man von allen drei Komponenten nicht die richtige Mischung hat, dann schafft man es nicht. Wenn man 33 Prozent Talent, 33 Prozent Wille, aber nur zwei Prozent Glück hat, wird es nichts. Bei mir war es so, dass ich von allem ein gesundes Maß abbekommen habe.
Bei allem Glück hatten Sie am Sonntag auch mal mächtig Pech. Ihnen ist ein 45-Meter-Eigentor unterlaufen. Steckt man das besser weg, wenn man gerade Weltmeister geworden ist?
Kramer: Ja, absolut. Hätte ich das ganze Jahr über nur Mist gespielt, und mir wäre dazu noch so ein Eigentor unterlaufen, hätte ich bestimmt daran zu knabbern. Aber ich persönlich finde, dass ich mit meinem Jahr sehr zufrieden sein kann. Nicht nur mit meiner Leistung bei der WM, sondern überhaupt. Die vergangenen anderthalb Jahre waren für mich eine Eins plus mit Sternchen. Gegen Dortmund war es eine Sechs. Über das Eigentor kann ich heute lachen. Über meine schlechte Leistung nicht. Aber für mich geht es jetzt ganz normal weiter.
Kramers 40-Meter-Eigentor
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie vom kolportierten Interesse Real Madrids an Ihnen gehört haben?
Kramer: Die Meldung hätte ich mir am liebsten ausgeschnitten und ins Zimmer gehängt. (lacht) Mit Real Madrid in Verbindung gebracht zu werden, ist eine riesengroße Ehre für mich.
Wäre so ein Schritt denn denkbar für Sie?
Kramer: Das Ausland hat mich schon immer interessiert. Ich scheue mich nicht davor. Ich will meine Grenzen erfahren und nach dem Bestmöglichen streben. Aber ich werde machen, was für mich am besten passt und noch sind wir weit weg von irgendwelchen Konkretisierungen – egal, in welche Richtung.
Gibt es einen Klub, für den Sie sehr gern einmal spielen würden?
Kramer: In meiner Kindheit und Jugend waren das immer Manchester United oder Real Madrid. Denn die waren das Maß aller Dinge.
Nach dieser Saison läuft Ihre Leihfrist in Mönchengladbach aus, und sie müssen vorerst zurück zu Bayer Leverkusen. Zuletzt hatte man nicht den Eindruck, als hätten Sie darauf Lust. Ist es dennoch möglich, dass Sie demnächst für Bayer auflaufen werden?
Kramer: Ohne Bayer Leverkusen wäre ich niemals dahin gekommen, wo ich heute bin. Dort wurde ich 13 Jahre lang ausgebildet. Deshalb bin ich dem Klub ohne Ende dankbar. Natürlich ist eine Rückkehr zu Bayer absolut eine Option für mich. Mit Roger Schmidt haben sie einen guten Trainer und spielen einen attraktiven Fußball, der auch zu mir gut passen würde.
Was sich Kramer von Torsten Mattuschka abgucken kann
Mal ehrlich: Wenn man eben noch im WM-Finale stand, macht so ein Spiel in der EM-Qualifikation gegen Gibraltar nicht besonders viel Freude, oder?
Kramer: Auch die ersten Bundesligaspiele nach der WM waren von der Motivation her schwer für mich. Aber jetzt ist alles wieder ganz normal. In der vergangenen Woche habe ich mit Borussia gegen Limassol auf Zypern gespielt. Das war vom Kopf her auch nicht leichter als jetzt gegen Gibraltar. Aber als Profi lernt man, diesen Schalter einfach umzulegen.
Hatten Sie zuletzt eigentlich mal Kontakt zu Torsten Mattuschka? Sie sollen ja ein großer Fan von ihm sein.
Kramer: Das stimmt auch. Vielleicht treffe ich mich demnächst mal auf ein Essen mit ihm. Ich habe ihn damals in der Zweiten Liga während einer Dopingkontrolle kennengelernt und fand ihn als Mensch richtig super. Zudem ist er ein richtig geiler Spieler. Damals war er der beste Spieler, den ich bis dahin live getroffen hatte. Ich habe ihn sehr bewundert und finde nach wie vor, dass er ein allesüberragender Spieler ist – auch, wenn er jetzt in der 3. Liga spielt. Ich mag einfach solche Straßenfußballer. Auch wenn er nicht unbedingt ein Leichtathlet ist.
Gucken Sie sich von so einem Spieler noch etwas ab?
Kramer: Ja, natürlich. Seine Schusstechnik, seine Haken, die er schlägt. Damals, als er mit Union gegen uns in Bochum gespielt hat, hat er einen Ball an die Latte gelupft. Seitdem habe ich auch angefangen, öfter mal zu lupfen.