Hamburg. . Der Handball-Rekordmeister THW Kiel liegt beim norddeutschen Rivalen HSV Hamburg scheinbar aussichtslos zurück, gewinnt aber am Ende beeindruckend mit 33:30. Die einzigartige Serie der Kieler geht damit weiter - während die Hamburger noch immer nicht wissen, wie ihnen geschah.
In der Hand faltete Alfred Gislason ein paar Blätter mit einem historischen Aufsatz. Darin ging es um Glima, eine traditionelle isländische Ringkunst, und irgendwie passte dieser Text zu dem famosen Handballspektakel, das hinter dem isländischen Trainer des THW Kiel lag. Hatte sich der Rekordmeister doch in den letzten Minuten beim HSV Hamburg aus der Umklammerung gelöst und den Gegner in einem letzten Konter zu Fall gebracht. „Wir standen ja schon am Abgrund“, sagte Gislason später, noch immer ein wenig fassungslos.
Der 53-jährige Coach war nicht der Einzige, den dieser 33:30 (12:15)-Auswärtssieg des Rekordmeisters beim Dauerrivalen fast sprachlos machte. Das furiose Comeback in den zehn Schlussminuten, in die der HSV mit einer komfortablen 28:23-Führung gegangen war, stürmisch umtost von den über 13 000 Fans in der Hamburger O2-World, als der THW mit einem 10:2-Lauf doch noch siegte, ist im letzten Jahrzehnt der deutschen Bundesligageschichte ohne Beispiel. THW-Keeper Thierry Omeyer jedenfalls, der Mann mit dem großen Gedächtnis für Statistiken, musste um ein bisschen Bedenkzeit bitten. „Ich muss ein bisschen überlegen“, sagte der Torwart. Aber ihm fiel kein passender Vergleich ein.
Taktische Umstellung bringt die Wende
Ausgelöst wurde das Comeback durch die taktische Umstellung in einer Auszeit. Als die erste Liga-Niederlage seit dem 4. Mai 2011 schon besiegelt schien, reagierte Gislason mit einer 3:2:1-Deckung, mit dem überragenden Tschechen Filip Jicha (acht Tore) in der Spitze – nun saßen alle fünf Neuzugänge des THW auf der Bank und schauten zu. „Das ist eine Raumdeckung, die höchste Konzentration aller erfordert“, erläuterte der Handball-Lehrer später. „Ich habe gesagt: Fangt endlich an zu decken.“ Jicha erinnerte sich an Gislasons Worte so: „Wir werden das Spiel gewinnen, wenn wir uns daran erinnern, was wir im Kopf und den Beinen haben.“
Nur drei Minuten später hatte der THW vier Tore aufgeholt. Dadurch geschockt, verlor der zunehmend kraftlose HSV in den letzten Minuten entscheidende Bälle. „Das darf uns nicht passieren“, sagte Regisseur Michael Kraus, der bis dahin eine starke Leistung geboten hatte. „Das war unglaublich intensiv“, meinte HSV-Coach Martin Schwalb. „So ein Team wie den THW muss man erst einmal vor solche Probleme stellen. Das schaffen nur ganz wenige Mannschaften in der Welt.“
Alles spricht wieder für Kiel
Schwalb wirkt geradezu ausgeknockt, denn mit sechs Minuspunkten schaut der Meister von 2011 dem Treiben an der Tabellenspitze mit dem Fernglas zu. Alles spricht wieder für Kiel (17:1-Punkte), zumal die „Zebras“ die schweren Auswärtshürden in Berlin und nun in Hamburg hinter sich haben und inzwischen 46 Bundesligapartien ohne Niederlage aufweisen. Torhüter Omeyer aber wehrte alle vorzeitigen Glückwünsche ab. „Es werden nicht viele Mannschaften hier gewinnen, aber das ist bisher nur ein Viertel in der Saison.“ Doch der THW hat mit der rekordverdächtigen Aufholjagd gezeigt, dass die Titelvergabe wieder über Kiel führt.