Essen. . In Essen trafen sich der Herner Hans Tilkowski und der Engländer Sir Geoff Hurst. Die umstrittenste Szene der Fußball-Geschichte im Finale der Weltmeisterschaft 1966 machte sie zu Legenden. Und zu Freunden.
Das Schwarz-Weiß-Poster, das die gesamte Wand ausfüllt, zeigt die umstrittenste und deshalb berühmteste Szene der an Kuriositäten nicht gerade armen Fußballgeschichte. Es ist signiert von den beiden Protagonisten, beide haben auch noch einen kleinen Kommentar dazu geschrieben. „…und es war doch kein Tor!“, ist dort zu lesen, etwas weiter rechts aber wird das Gegenteil behauptet: „100 % Goal“.
Hans Tilkowski und Geoff Hurst stehen davor und umarmen sich. Deutscher Torhüter der eine, englischer Angreifer der andere, Legenden des Weltfußballs seit eben diesem einen sporthistorischen Moment, der sich am 30. Juli 1966 ereignete. Finale der Weltmeisterschaft in London, es steht 2:2, in der Verlängerung hämmert Hurst den Ball von der Strafraumgrenze aufs Tor. Tilkowskis Fingerspitzen berühren ihn noch, dann klatscht er unter die Latte und fällt nach unten. Tilkowski blickt im Fliegen über seine Schulter und sieht, dass der Ball von der Linie ins Feld zurückspringt. „Nicht im Tor! Kein Tor!“, ruft der deutsche Fernseh-Kommentator Rudi Michel beschwörend. Schiedsrichter Gottfried Dienst aus der Schweiz ist unsicher, befragt den Linienrichter: Tofik Bachramow aus dem damals zur Sowjetunion gehörenden Aserbaidschan entscheidet: Tor! In der Schockstarre verlieren die Deutschen 2:4.
Tilkowski, 76, und Hurst, 70, haben sich schon mehrmals getroffen seitdem, am Wochenende kamen sie in Essen zusammen. Der mit dem früheren Dortmunder Torwart gut bekannte Versicherungsagent Ingo Kuhnke hatte die beiden eingeladen – für ihn ein gelungener PR-Coup, für die zwei Fußballgrößen eine wunderbare Gelegenheit zum Fachsimpeln und Flachsen. „Dass aus einer solchen Fußballszene diese Freundschaft entstanden ist, ist etwas ganz Großes“, betont Hans Tilkowski stolz, und Sir Geoff Hurst, den die Queen vor 14 Jahren zum Ritter schlug, bestätigt dies gerne: „Der Respekt zweier Gegner ist mehr wert als alles andere. Der Fußball reißt Barrieren ein.“
Zum Jubiläum des aserbaidschanischen Fußballverbandes waren Tilkowski und Hurst auch schon gemeinsam in Baku, dort steht vor dem Stadion ein Denkmal von Tofik Bachramow, der in seiner Heimat ein Volksheld war. „Geoff hat ja damals das Geld überwiesen, damit die Statue überhaupt gebaut werden konnte“, sagt Hans Tilkowski augenzwinkernd, Geoff Hurst lacht herzlich: „Ein guter Witz, wirklich.“
Die Frage aller Fragen ist beiden schon tausende Male gestellt worden, Hurst sagt grinsend: „Hans hat darauf eine andere Antwort als ich.“ Es gibt kein Beweisbild zugunsten der Engländer, aber es gibt bis heute diese Faszination, diese enorme Strahlkraft: Wo auch immer in der Welt ein Ball von der Latte nach unten auf, vor oder hinter die Linie fliegt, ist vom „Wembley-Tor“ die Rede. „Ich werde nicht müde, darüber zu sprechen“, sagt Geoff Hurst, damals dreimaliger Torschütze im Endspiel. „Der Tag hat mein Leben verändert. Kürzlich hat mich ein zwölfjähriger Junge gefragt, ob der Ball drin war. Ein Zwölfjähriger!“
Pro und contra Technik
In der heutigen Zeit wäre der Fall schnell geklärt, eine von ungezählten Kameras würde den Beweis schon liefern. Eine schiedsrichterliche Fehlentscheidung aber wäre nach wie vor nicht ausgeschlossen. Braucht der Fußball also technische Hilfsmittel, braucht er eine Torkamera, einen Chip im Ball? „Nein, Sport muss Sport bleiben“, sagt ausgerechnet Hans Tilkowski. „Zwei Torrichter würden schon reichen, das Spiel darf nicht gestoppt werden wie beim Eishockey.“ Geoff Hurst lässt sich die Ansicht seines Freundes übersetzen und sagt dann überraschend: „Dem stimme ich nicht zu.“ Er zieht die mechanische Perfektion der menschlichen Fehlbarkeit vor. Obwohl er weiß: Man kann kein Omelett machen, ohne Eier zu zerschlagen. Mit moderner Technik hätte das dritte Tor von Wembley annulliert werden können – dieser aufregendste Augenblicks des Fußballs hätte seine herausragende Bedeutung nie erlangt. „Und ich wäre jetzt nicht hier“, sagt Geoff Hurst.