Daegu.
Boris Henry trägt nicht mehr regelmäßig seine Baseball-Mütze, die er bei Wettkämpfen immer mit dem Schirm nach hinten auf dem Kopf hatte. Aber er hat noch immer ein kantiges Gesicht wie aus einem Stück Kopfsteinpflaster gemeißelt. Zweimal war der 37-Jährige als Speerwerfer WM-Dritter, heute ist er Trainer. Goldfavoritin Christina Obergföll ist seine Freundin, Medaillenkandidat Matthias de Zordo sein Schützling.
Henry lehnt im Flur an einem Treppengeländer. Drinnen, in einem Sponsoren-Klub neben dem Stadion der Leichtathletik-WM in Daegu, geben Obergföll und de Zordo Interviews. Das finnische Fernsehen ist verrückt nach dem 23-Jährigen. Speerwerfen ist in Finnland Nationalsport. „Bei uns zu Hause interessieren sich die Leute mehr für Fußball“, erklärt de Zordo den Finnen auf Englisch.
Maurice Greene schlurft vorbei. Der frühere 100-m-Weltrekordler aus den USA klopft Henry im Vorbeigehen auf die Schulter, lässt sich auf ein weißes Sofa fallen und kümmert sich für den Rest des Nachmittags nur noch um sein Handy. Man kennt sich in der Leichtathletik-Familie. Henry war früher der Lebensgefährte der US-Sprinterin Kelli White, die 2003 bei der WM in Paris ihre Goldmedaillen über 100 und 200 Meter wegen Dopings zurückgeben musste.
"Noch immer einen nervösen Magen"
Obergföll, seine neue Liebe, ist im Vergleich zu früheren Großveranstaltungen lockerer geworden, sie hat fünf Kilo abgenommen und sitzt entspannt auf einem Barhocker. „Früher habe ich mich vor Wettkämpfen verrückt gemacht“, sagt sie. „Heute denke ich mir: Na und? Die Erde dreht sich auf jeden Fall weiter.“ Lockerer heißt aber nicht: Sehr locker. „Ich habe immer noch einen nervösen Magen“, gibt die 31-Jährige zu.
Zwei Tage später, am Donnerstagmorgen, macht sich dieser Magen wieder bemerkbar. Obergföll muss früh raus, um zur Qualifikation ins Stadion zu fahren. „Beim Frühstück habe ich nichts runter gekriegt.“ Doch in der Qualifikation zeigt sie der Konkurrenz, wo der Hammer am Freitag beim Finale hängen wird: Ein einziger Wurf reicht, um ihren Speer auf 68,76 Meter fliegen zu lassen, nur zehn Zentimeter weniger als ihre Saisonbestleistung. „64 Meter hätten auch gereicht, jetzt sehen mich alle nur noch als Favoritin“, mag Obergföll ihre WM-Rolle überhaupt nicht.
De Zordo qualifiziert sich am Abend mit 82,05 Metern locker für das Finale der Männer am Samstag. Er tickt anders als Obergföll. Er ist ein Optimist, für ihn sind Probleme und Qualifikationen nichts anderes als verkleidete Chancen.
Vom Handball zum Speerwurf
Die 31-Jährige charakterisiert den wesentlichen Unterschied zwischen ihnen beiden so: De Zordo sei wesentlich „trainingsentspannter“. Wenn die deutsche Meisterin bei Boris Henry in Saarbrücken zu Besuch ist, beobachtet sie de Zordo bei seinen Übungen. „Von seiner Entspanntheit würde ich mir gerne eine Scheibe abschneiden.“ Es klingt durch die Blume so, als wäre der deutsche Meister nicht der Fleißigste.
Herr de Zordo, sind Sie faul? Der 23-Jährige lächelt. „Manche sagen das über mich“, meint er. „Aber das stimmt nicht. Es ist einfach so, dass ich meinen Körper sehr gut kenne. Wenn ich zum Beispiel mit dem Krafttraining überziehe, geht mir der Rhythmus beim Wurf verloren.“ Den schnellen Armzug hat er vom Handball mit zum Speerwurf gebracht. Er hat in der Oberliga im rechten Rückraum gespielt, bis er 18 Jahre alt war. „Dann wurde mir die Verletzungsgefahr zu groß.“
Auf den Punkt konzentriert
De Zordo ist ein Mann, der sich im Wettkampf auf den Punkt konzentriert und steigert. Bei der Europameisterschaft vor einem Jahr in Barcelona startete er auf diese Art von Null durch auf den zweiten Platz. Seine 87,81 Meter von Barcelona, so fanden Statistiker heraus, sind der Weltrekord für Linkshänder. Er selbst macht kein großes Theater darum. Er war lange so schweigsam, dass er in jedem Stummfilm die Hauptrolle hätte übernehmen können.
„Der Typ Klassensprecher war ich nie“, beschreibt er sich selbst. „Aber es wird besser. Nach dem zweiten Platz von Barcelona hatte ich plötzlich viele Termine, bei denen ich gelernt habe, auf Leute zuzugehen.“
Boris Henry schätzt, dass sein Schützling selbstbewusster wird. Aber als Trainer wünscht er sich zudem bessere athletische Werte von de Zordo. „Im Sprint und Sprung hat er die schlechtesten Werte von allen“, brummt Henry. Deshalb ist in diesem Moment auch Schluss im Sponsoren-Klub. Ab zum Training! Henry hat in Südkorea keine Lust auf Speermüll.