Herzogenaurach. Sportlich war die EM beinahe so enttäuschend wie die WM 2018. Jenseits des Spiels gab es bei der deutschen Mannschaft Fortschritte.
Joachim Löw und Oliver Bierhoff saßen gemeinsam auf dem Podium. Oder besser: auf der Anklagebank. Dem Hauptvorwurf des sportlichen Debakels waren die beiden schnell überführt. Ihr Geständnis („Es war fast schon arrogant“) floss in die Urteilsfindung mit ein. Doch dann war da noch dieser zweite Vorwurf, der nicht weniger schwer wog: Die Nationalmannschaft habe ein gravierendes Imageproblem. Ein Vorwurf, den Bierhoff so nicht teilte, aber „mit den Stakeholdern“ analysieren wollte.
Knapp drei Jahre ist dieses Tribunal her, als Löw und Bierhoff am Mittwochmittag erneut auf dem Pressepodest Platz nehmen. Diesmal nicht in München, sondern im knapp 200 Kilometer entfernten Herzogenaurach. Es ist Löws letzte Pressekonferenz als Bundestrainer – und erneut ist der Prozess über die sportliche Enttäuschung dieser EM durch ein Löw-Geständnis („Ich trage ohne Wenn und Aber die Verantwortung“) schnell entschieden. Doch die beiden allerletzten Fragen bekommt auch dieses Mal Nationalmannschaftsdirektor Bierhoff. Zum einen wird der DFB-Manager über das Projekt Zukunft befragt. Zum anderen wird auch wieder das Image der Nationalmannschaft hinterfragt – doch diesmal ganz anders als nach der WM 2018 in Russland.
Bilder, die in Erinnerung bleiben
„2018 sind wir selbstkritisch mit den Vorwürfen umgangenen, haben die Kritik angenommen, Maßnahmen ergriffen und Maßnahmen auch runtergefahren – und mich freut es, wenn das auch positiv aufgenommen wird“, sagt Bierhoff, der sich nach dem Imagedesaster Russland trotz des Achtelfinal-Aus bei dieser Europameisterschaft darüber freuen darf, dass seine Mannschaft zumindest jenseits des Spiels punkten konnte. Leon Goretzkas Herzchenjubel gegen Ungarn, Manuel Neuers Regenbogenbinde und das gemeinsame Niederknien im Wembley sind Bilder, die von dieser EM in Erinnerung bleiben werden.
Jenseits des Platzes punktet die Nationalmannschaft
Vergisst man mal für einen kurzen Moment, dass es bei so einer Fußball-Europameisterschaft primär um, nun ja, Fußball gehen sollte, hat die Nationalmannschaft tatsächlich so stark gepunktet wie schon lange nicht mehr. Über die Haltungsnoten auf den Fußballplatz darf man nach den wechselhaften Spielen sicherlich diskutieren. Doch die führenden Spieler dieser Mannschaft haben Haltung – da gibt es keine zwei Meinungen.
Als vor drei Jahren die Rassismusdebatte nach dem Rücktritt Mesut Özils nicht nur Fußball-Deutschland zu zerreißen drohte, hörte man zwar von Funktionären, Politikern, Journalisten und Integrationsforschern jede Menge zu dem Thema. Doch von einer Gruppe hörte man wenig bis gar nichts: von Özils Mannschaftskollegen.
Leon Goretzka: Mit Wucht gegen Intoleranz und Rassismus
Ein derart lautes Schweigen braucht man von aktuellen Führungsspielern wie Goretzka, Joshua Kimmich oder Antonio Rüdiger nicht mehr befürchten. Besonders Goretzka, dem nachgesagt wird, dass er mit einer unvergleichlichen Wucht durch die Mittelfeldreihen der Fußball-Welt marschieren kann, ist auch jenseits des Rasens mit keiner geringeren Wucht im Kampf gegen Rassismus, Intoleranz und die Ewig-Gestrigen unterwegs. Die AfD nennt er unverblümt „eine Schande für Deutschland“ und kürzlich besuchte der Bayernprofi in seiner Freizeit die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer. Er fühle „unglaublichen Respekt und Ehrfurcht davor“, was die 99-Jährige in ihrem Leben erlebt und überlebt habe, sagte der Fußballer nach der emotionalen Begegnung.
Auch Neu-Nationalspieler Robin Gosens nimmt kein Blatt mehr vor den Mund, wenn er vor dem Achtelfinale im Hochinzidenzgebiet London befragt wird. „Ich finde es grenzwertig. Da sind 40.000 Zuschauer im Stadion, im einzigen Land Europas, wo die Inzidenzen momentan überdurchschnittlich sind“, sagt Gosens kopfschüttelnd. „Das ist alles andere als optimal, wenn man das Gesamtbild sieht.“
Außerhalb des Platzes selten besser
Nimmt man das Gesamtbild der Nationalmannschaft bei dieser EM, dann darf man als Fußballfan enttäuscht über die sportlichen Darbietungen sein. Die Performance außerhalb des Platzes war dagegen selten besser. „Ich hoffe, dass dieses Bild der Mannschaft weiter vorangetragen wird“, sagt Bierhoff zum Schluss der Pressekonferenz von Herzogenaurach.
Das einzige Problem dieser deutschen Nationalmannschaft: Sie muss eben auch noch überzeugend Fußball spielen.