München. Der Bergamo-Profi Robin Gosens hat den wahrscheinlich ungewöhnlichsten Karriereweg aller Nationalspieler. Ein Fußballmärchen.

Als der deutliche Sieg unter Dach und Fach war und das Spiel endlich abgepfiffen wurde, nahm Robin Gosens all seinen Mut zusammen. „Ich versuchte mir einen weiteren Traum zu erfüllen und das Trikot von CR7 abzugreifen. Das wäre ein absolutes Highlight in meiner Sammlung gewesen“, erinnert sich Gosens an einen kurzen Plausch mit Cristiano Ronaldo. „Als ich bei ihm angelangt war und fragte: ‘Cristiano, can I maybe have your Jersey?’, schaute er nicht mal auf, sondern sagte beim Weiterlaufen nur ‘No!’“

Zweieinhalb Jahre ist dieser Wortwechsel nun schon her. Damals hatte Gosens mit Atalanta Bergamo gerade Ronaldo mit Juventus Turin mit 3:0 aus dem italienischen Pokal geschossen. 872 Tage später, nach Deutschlands herrlichem 4:2-Sieg über Portugal, verzichtete Gosens in München darauf, einen weiteren Ronaldo-Anlauf zu wagen – und wahrscheinlich hätte der portugiesische Superstar auch diesmal keine größere Tauschlust an den Tag gelegt.

Robin Gosens unverstellte Freude am ARD-Mikrophon

Ein „absolutes Highlight“ war dieser 19. Juni in der Allianz Arena für Gosens aber auch ohne Ronaldo-Trikot. „Das ist geil! Du kannst mich gerne zwicken, selbst dann glaube ich das nicht“, sagte der 26-Jährige direkt nach dem EM-Spiel am ARD-Mikrofon. „Ein Tor für die Nationalmannschaft zu schießen, ist immer besonders, und dann bei so einem großen Turnier und in einem Spiel, das für den weiteren Turnierverlauf so wichtig ist. Da geht mir wieder einer ab.“

Ohne Zweifel war Gosens gegen Portugal der „Man of the match“. Zwar wusste er nicht wirklich, was er mit der entsprechenden Uefa-Trophäe, die ihm nach dem Schlusspfiff überreicht wurde, anfangen soll („Soll ich das Ding jetzt mitnehmen?“). Doch dafür wusste er genau, was er im Spiel zuvor mit dem Ball anzufangen hatte. „Er wirft alles in die Waagschale, er spielt mit unbändigem Einsatz und genauso kämpft er für Dinge, die ihm wichtig sind“, lobte Bundestrainer Joachim Löw nach der Partie – und stellte einen direkten Zusammenhang zwischen Spielart und Gosens Persönlichkeit: „Ein Typ, wie sein Spiel. Auch das hat immer klare Kante. Als Typ schätzen wir ihn in der Mannschaft und im Trainerteam sehr. Er ist sehr, sehr offen, sehr aktiv in der Kommunikation, hat einen sehr guten Draht zu allen Spielern, ist klar im Kopf, sehr geradlinig.“

Karriere ohne Nachwuchsleistungszentrum

Bleibt die Frage: Wer ist dieser klare, offene und geradlinige Typ eigentlich?

Robin Evarardus Gosens hat den bislang wahrscheinlich ungewöhnlichsten Karriereweg aller Nationalspieler hinter sich. Ein Nachwuchsleistungszentrum hat der Mann vom Niederrhein aus Emmerich am Rhein nie von innen gesehen. In seiner Biografie „Träumen lohnt sich – Mein etwas anderer Weg zum Fußballprofi“, die kurz vor der EM erschienen ist und in der auch die Ronaldo-Passage ausführlich beschrieben ist, gibt Gosens beispielsweise auf höchst unterhaltsame Art und Weise preis, wie er nach einer langen Nacht ein U17-Spiel für Rhede machte und ihn ausgerechnet da ein holländischer Scout entdeckte und ansprach: „Jetzt muss ich irgendwie versuchen zu kaschieren, dass ich bis sechs Uhr feiern war und noch immer Restalkohol im Blut habe“, berichtet er vom Gespräch mit dem Talentspäher von Vitesse Arnheim. „Ich gab mein Bestes und vermied Blickkontakt. Zur Sicherheit atmete ich außerdem in eine andere Richtung. Man kennt das ja. Irgendwie musste ich es tatsächlich geschafft haben, meine Fahne zu verbergen, denn die Einladung zum Probetraining bestand auch nach unserer Verabschiedung.“

Der neue Liebling der Nation

Man darf davon ausgehen, dass Gosens nach dem Sieg gegen Portugal diesmal nicht bis 6 Uhr morgens um die Häuser zog. Ohnehin musste der neue Liebling der Nation, der lautstark von den Zuschauern mit Sprechchören gefeiert wurde, nach dem Schlusspfiff Verpflichtungen nachkommen. Nach Angaben von Pressesprecher Jens Grittner musste der Deutsch-Niederländer (Mama Deutsche, Papa Niederländer), der seit vier Jahren in Italien wohnt, insgesamt 15 Interviews auf vier Sprachen führen. Und natürlich wurde der polyglotte Fußballer in sämtlichen Sprachen auf seine ungewöhnliche Karriere angesprochen. Seine Antwort auf Deutsch, Englisch, Italienisch und Niederländisch: „Ich weiß, dass ich einen anderen Weg genommen habe als alle anderen, die aktuell in der Nationalmannschaft spielen, aber in der Truppe fühle ich mich überhaupt nicht als Exot.“

Psychologiestudent und Fußballprofi

Doch ob Gosens nun will oder nicht – er ist anders. So studiert der Wahl-Italiener ganz nebenbei Psychologie („Es gibt mir schon eine mentale Balance und Ausgeglichenheit. Ich versuche mich selbst zu reflektieren“) und macht in der darwinschen Blase Fußballprofi – nur die Stärksten überleben – auch kein großes Geheimnis daraus, dass ihn die Corona-Geschehnisse in seiner Wahlheimat Bergamo im Frühjahr 2020 sehr mitgenommen haben. „Schon wenn ich darüber rede, bekomme ich einen dicken Kloß im Hals, weil sofort alle Bilder wieder in den Kopf schießen. Es war die Hölle auf Erden, wie im Kriegsgebiet. Du bist morgens von den Sirenen wach geworden und abends damit eingeschlafen, weil im Minutentakt Leute ins Krankenhaus eingeliefert wurden oder gestorben sind“, erinnerte er sich kürzlich. „Das ging über zwei Monate, wird für immer bleiben, aber auch eine Lehre sein.“

Robin Gosens arbeitet an dem nächsten Level

Gosens wisse nun umso mehr, dass er „die Kleinigkeiten des Lebens noch mehr zu schätzen“ habe. Die Partie von München zum Beispiel, die allerdings gut und gerne als Großigkeit eingeordnet werden darf. „Es war ein Abend, den ich nie vergessen werde“, sagte Gosens nach dem Spiel, das laut Bundestrainer Löw aber noch nicht das Spiel seines Lebens gewesen sein soll. „Das Spiel seines Lebens hat er vielleicht noch vor sich.“

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Um bei dieser EURO 2020 noch eine Kür folgen zu lassen, muss zunächst einmal die Pflicht am Mittwoch gegen Ungarn erledigt werden. „Wenn man für sein Land eine EM bestreiten darf, ist das das eine“, sagte Robin Gosens. „Wenn man dann noch eine Hütte macht, ist das next Level, das ist magisch.“

Das nächste Level ist in Arbeit.