München. . Nach der EM-Vorrunde rätselt die deutsche Mannschaft über ihre wahre Stärke. Die Defensive bleibt ein Problem – aber nicht das einzige

Es war eine klare Ansage vom Kapitän nötig. Manuel Neuer gefiel gar nicht, was da um ihn herum passierte. Und so drehte er sich einmal um, mahnte energisch zur Ruhe – und dann erklärte er den wartenden Journalisten, was da passiert war im gerade zu Ende gegangenen Fußballspiel in München, jenen wilde 2:2 (0:1) der deutschen Nationalmannschaft gegen Ungarn. Oder besser: er versuchte es zu erklären, denn die deutschen Nationalspieler waren nach dieser Partie zwar maximal erleichtert, weil es am Ende für Platz zwei und das Weiterkommen gereicht hatte. Aber sie waren über den eigenen Auftritt nicht weniger ratlos als die vielen Beobachter.

„Für uns alle war es ein absoluter Nervenkrimi“, seufzte Neuer. „Wir waren kurz vorm Ausscheiden, haben im Laufe des Spiels fast jeden Tabellenplatz einmal gehabt.“ Lange, sehr lange war es der vierte Tabellenplatz gewesen. Die deutsche Mannschaft hatte tatsächlich kurz vor dem Aus gestanden, obwohl sie doch nur ein Pünktchen gegen den Fußballzwerg Ungarn fürs sichere Weiterkommen brauchte. Der aber wollte so gar nicht zwergenhaft auftreten. Insbesondere der Sturmhüne Adam Szalai, sonst bei Mainz 05 beheimatet, bereitete der deutschen Abwehr erhebliche Probleme, seine Gegenspieler mit den deutlich größeren Namen wirkten ein ums andere Mal eher wie Scheinriesen.

Und so wurde es ein wilder Ritt durch sämtlich Tabellen- und Gefühlsregionen. 11. Minute: Kopfballtor Szalai nach Flanke von Roland Sallai, und zu beiden wahrt die deutsche Mannschaft gewissenhaft den eigentlich nur auf den Zuschauerrängen geforderten Mindestabstand von 1,50 Metern (30.). 0:1, das würde das zweite Vorrundenaus in Serie nach der WM-Blamage von 2018 bedeuten – zumal Portugal nicht den Gefallen tut, im Parallelspiel gegen Frankreich zu verlieren.

DFB: Ungarn-Spiel ein Wechselbad der Gefühle

Dann ein Freistoß, endlich ein guter Standard, Kopfball Mats Hummels, Kopfball Kai Havertz, Tor (66.). Deutschland ist weiter. Anstoß, langer Ball der Ungarn, Konfusion in der deutschen Hintermannschaft, am Ende läuft Andreas Schäfer allein auf Neuer zu und trifft (68.) – Deutschland ist raus. Spät erst die Erlösung, als Leon Goretzka aus dem Hintergrund schießen müsste und das mit Wucht und Entschlossenheit tut (84.). Und dann, gut zehn Minuten später, ist das Spiel aus, aus, aus und Deutschland ist weiter.

Die Szene des 1:2-Führungstreffers für Ungarn. Schäfer (rechts) entwischt den Deutschen Spielern.
Die Szene des 1:2-Führungstreffers für Ungarn. Schäfer (rechts) entwischt den Deutschen Spielern. © AFP

Ein Wechselbad der Gefühle, wie ja auch die gesamte Vorrunde ein Wechselbad der Gefühle war: 0:1 gegen Frankreich, 4:2 gegen Portugal, dann das mühsame Unentschieden gegen den Außenseiter. Ein Außenseiter, das betonen die deutschen Profis allesamt nach Schlusspfiff, der es auch Portugal und Frankreich sehr schwer gemacht hat.

Trotzdem bleiben viele Fragen, bevor es nun am Dienstag (18 Uhr/ARD und MagentaTV) in London gegen England geht. Wie gut ist diese Mannschaft wirklich? Warum gelingt ihr ein rauschendes Fußballfest gegen Europameister Portugal und dann nicht mal eine kleine Stehparty gegen Ungarn? Warum tun sich so viele gestandene Champions-League-Sieger der vergangenen Jahre so schwer, dem Spiel ihren Stempel aufzudrücken? Und warum gelingt es einfach nicht, die Defensive zu stabilisieren?

„So wie heute brauchen wir in London gar nicht erst anzutreten"

Antworten gab es wenige, die deutsche Mannschaft ist auch sich selbst ein Rätsel. „Wir haben jetzt drei sehr verschiedene Spiele gezeigt und ich hoffe, dass wir jetzt endlich im Turnier angekommen sind“, meinte Joshua Kimmich, der gleich auch mahnte: „So wie heute brauchen wir in London gar nicht erst anzutreten – aber das wird ein ganz anderes Spiel.“ Das wird es auch brauchen: „Wenn wir das abrufen, was wir können, sind wir stark“, sagte Bundestrainer Joachim Löw. „Wenn nicht, dann bekommen wir Probleme.“

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Problem Nummer 1: die Defensive. Auch im dritten Spiel geriet die deutsche Mannschaft in Rückstand, fünf Gegentore gab es in drei Spielen. „In der Vielzahl wird das in einem Turnier echt schwierig“, meinte Neuer. Die Abstimmung zwischen den Innenverteidigern hapert noch, im Mittelfeld wurde diesmal die defensive Autorität vermisst. Insbesondere das prompte Gegentor nach dem ersten Ausgleich sorgte für Unmut. „Da waren wir nicht schnell genug wieder auf Platz, nicht wach genug im Kopf“, schimpfte Goretzka. „Das darf natürlich nicht passieren, wenn du in einem Turnier weit kommen willst.“

Problem Nummer 2: Die Mannschaft tut sich schwer, wenn ihr Ursprungsplan nicht aufgeht. Gegen Portugal hatten die Außenspieler Platz ohne Ende gehabt. Ungarn stellte die Flügel zu und bremste die deutsche Offensive damit wirkungsvoll ein – auch weil den hochbegabten Leroy Sané und Serge Gnabry wenig einfiel. Bundestrainer Joachim Löw hat sich in seinen 15 Jahren Amtszeit einen hervorragenden Ruf als Fußballlehrer erarbeitet. Aber auch sein letztes Turnier zeigt, dass seine Stärken nicht darin liegen, durch schnelle Handgriffe und Entscheidungen auf unerwartete Spielverläufe zu reagieren. Nach der Pause stellte er zwar um von Dreier- auf Viererkette, schob Kimmich ins Zentrum – aber wirklich besser wurde das deutsche Spiel dadurch nicht.

Die Joker machen dem DFB-Team Hoffnung

Immerhin: zwei von Löws fünf Einwechselspielern brachten die Wende. Goretzka, der schoss – und Jamal Musiala, der 18-Jährige, der die Szene mit schnellem Haken und klugem Pass erst ermöglichte und überhaupt ein Lichtblick war mit seinem unbekümmerten Spiel. Ich habe mir einfach vorgenommen, mit Selbstvertrauen und ohne Angst zu spielen“, sagte er. Ich war stolz bei so einem großen Turnier überhaupt auf dem Feld zu sein. Und dass ich dem Team dann noch helfen konnte, ist nochmal ein Plus.“

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Der deutsche Kader ist reich an Alternativen, die Moral in der Mannschaft stimmte nach den Rückschlägen – das waren zwei gute Nachrichten zum Abschluss der Gruppenphase. Die dritte: „Wir können uns verbessern und haben dafür jetzt ein paar Tage Zeit“, sagte Neuer. Denn trotz aller Fragen, trotz aller Unbeständigkeit: Der Glaube an die eigenen Stärken ist intakt: „Zweifel haben wir nicht, die brauchen wir nicht, wir sind voller Selbstvertrauen“, verkündete Goretzka.

Auch vor einem Auswärtsspiel gegen England im berühmten Wembley-Stadion: „Das wird geil!“, freute sich Kimmich. „Wir sind auf jeden Fall heiß.“