Berlin. Der Kraftprotz Robert Harting hat im letzten Versuch zugeschlagen: Mit einem Wurf auf 69,43 Meter übertrumpfte der Diskuswerfer noch den bislang führenden Polen Piotr Malachowski. Und krönte sich zum Weltmeister.

Wutgelaunt ist Robert Harting am besten. Der Berliner Diskuswerfer ist nicht der kleine Bruder von Bambi, sondern ein Mann, der seine Topleistung nur unter Druck abliefern kann. Mit seinen Provokationen im Vorfeld des WM-Finales hat er genau dieses Spannungsfeld aufgebaut und gestern Abend – eingesponnen in den Kokon des Ärgers – seine persönliche Bestleistung geworfen: 69,43 Meter! Weltmeister im letzten Versuch! Harting zerreißt sein Trikot und tanzt mit freiem Oberkörper auf der Laufbahn.

Der Pole Piotr Malachowski (69,15), bis zum letzten Durchgang eigentlich sicherer Weltmeister, liegt wie ein Maikäfer auf dem Boden. Harting tobt weiter durch das Stadion. Ein Diskus-Finale wie von einem anderen Stern.

Der Joker: ein estisches Nationaltrikot

Seinen Joker muss der 24-Jährige dabei erst gar nicht ziehen. Er hatte angekündigt, ein estisches Nationaltrikot in seine Tasche zu packen. Dieses Trikot wollte er als Schweißtuch benutzen, um den estischen Olympiasieger Gerd Kanter zu verunsichern. Doch das ist an diesem Abend nicht nötig. Ein Kanter-Sieg steht nicht zur Debatte. Der Olympiasieger, der seit 28 Wettkämpfen nicht mehr verloren hat, kommt nicht in den Wettkampf und wird Dritter.

Ein Fettnäpfchen weniger, denn die Trikot-Aktion hätte erneut Krach bedeutet. Clemes Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, hatte versichert, Harting das Trikot aus Estland zur Not wegzunehmen. Doch Harting erledigt das Thema selbst. Nämlich mit dem ersten Wurf. In der riesigen Stadion-Schüssel weht kein Lüftchen. Keiner der Werfer kann damit auf bessere Bedingungen und Glück hoffen. Auf das Glück, dass der Wind den Diskus trägt. In diesem Finale zählt allein die Technik, und die hat Harting drauf.

Dumme Sätze über Doping-Opfer

Manchmal ist der vermeintlich Stabile aber auch der Labile in einer Person. Haben ihn seine dummen Sätze über die Doping-Opfer der DDR - er wollte sie mit seinem Diskus treffen und zum Schweigen bringen - aus dem sportlichen Konzept gebracht? Nein, im Gegenteil. Selbst der polnische Riese Piotr Malachowski, der vor Harting wirft, bringt den Berliner nicht aus der Ruhe. Malachowski haut die Zwei-Kilo-Scheibe im ersten Versuch auf 68,77 Meter. Polnischer Rekord und zwölf Zentimeter weiter, als Harting je geworfen hat.

Aber der 24-Jährige ist bei seinem Heimspiel ein Mann mit der Nervenstärke eines Minenräumkommandos. Er legt sofort 68,25 Meter nach. Niemand weiß in diesem Moment, ob das schon für eine Medaille reicht. Harting geht zweimal in die Kurve des Stadions, dort hat er 40 Eintrittskarten für seine Freunde und Verwandten gekauft. Er legt seine Hände an die Ohren: Er will mehr Krach, mehr Anfeuerung. Die Zuschauer reagieren auf ihn, sie klatschen, sie brüllen. Negativ-Stimmung wegen seiner Doping-Sätze ist in keiner Sekunde zu spüren.

Der fliegende Robert auf der Ehrenrunde

Der Pole wirft an diesem Abend zunächst in einer anderen Liga, er erscheint unschlagbar. 69,15 Meter im fünften Versuch. Das war's! Harting hat noch einen Versuch. Er braucht jetzt nicht nur Glück, er braucht jetzt zwölf Richtige im Lotto. Er feuert das Publikum noch einmal an. Der Mann unten im Ring glaubt tatsächlich noch an sich und an ein Diskus-Wunder! Seine Miene liegt bei Gefrierstufe fünf, jetzt, jetzt, jetzt!

Dann fliegt die Scheibe: Bei 69,43 gräbt sie sich in den Rasen. Der Pole kann nicht mehr kontern. Harting hebt ab, der fliegende Robert auf der Ehrenrunde durch sein Olympiastadion! Was er jetzt machen wird? In seinem schwarzen Geländewagen hat er Anfang des Jahres eine Zigarre deponiert. „Die werde ich in Ruhe rauchen, wenn ich eine Medaille gewonnen habe”, hat er gesagt. Und zwar gutgelaunt!