Mülheim. Was 1760 als kleine Bäckerei im Dorf Mülheim begann, besteht nun schon in der siebten Generation. Im Café Sander setzt man auf Kontinuität.

In seinem früheren Kinderspielzimmer stellt Friedhelm Großenbeck, 65, eine traditionelle Spezialität des Stadtcafé Sander her: Baumkuchen nach dem unveränderten Rezept von Gustav Sander, geboren 1881. Vor allem vor Weihnachten produziert der Konditormeister unglaubliche Mengen von der süßen Leckerei. 1983 gelangte der jetzige Inhaber der Firma Sander als junger Konditormeister ins Unternehmen. Er leitet Konditorei und Café gemeinsam mit seiner Frau Anke, die im Verkaufsraum die Regie führt.

Der 26-jährige Friedhelm stieg damals in die Fußstapfen seines Vaters Friedrich Großenbeck. „Ich war als kleiner Junge nicht im Kindergarten, sondern bin im Café aufgewachsen“, erinnert er sich. „Die Lehrjungen haben manchmal in unserer Wohnung über der Backstube im Hinterhof mit meiner Eisenbahn gespielt. Und montags, wenn das Café geschlossen hatte, war der riesige leere Raum meine Spielfläche.“

Seit 1760 lebt die Familientradition in einem der ältesten Geschäfte des damaligen Dorfes Mülheim an der Ruhr weiter. Das Stadtcafé Sander ist mit Abstand die älteste Konditorei hier und in der Umgebung. 1760, was war da los? Es herrscht der Siebenjährige Krieg in Europa. Deutschlands berühmte Dichterfürsten sind noch Kinder: Johann Wolfgang von Goethe ist elf Jahre alt, Friedrich Schiller ein Jahr. Der bedeutende Barockkomponist Johann Sebastian Bach ist vor zehn Jahren gestorben. Der Apotheker George Dunhill setzt der bisher nur medizinisch angewandten Lakritze erstmals Zucker zu und verkauft sie als Süßware.

„Die Lehrjungen haben manchmal in unserer Wohnung über der Backstube im Hinterhof mit meiner Eisenbahn gespielt. Und montags, wenn das Café geschlossen hatte, war der riesige leere Raum meine Spielfläche.“

Friedhelm Großenbeck
Konditormeister aus Mülheim

Landwirtssohn Georg Sander, geboren 1714, gründet in diesem Jahr am Kohlenkamp in Mülheim eine Bäckerei. In dieser Straße befindet sich das Café Sander auch heute noch. Täglich fährt Georg in den Pütt ein: Der Steinkohlenbergbau hat im Ruhrgebiet begonnen. In der übrigen Zeit backt und verkauft der fleißige Georg Sander Brot. Sein Sohn Dietrich, Jahrgang 1760, hilft dem Vater schon früh in der Backstube und wird der erste Lehrling in der Geschichte des Stadtcafé Sander.

Die Zeiten sind ärmlich, und das Warenangebot beschränkt sich auf eine „Handvoll trockener Mehlbackwaren“. Creme-Torten gibt es zwar schon in den Metropolen Wien und Paris, aber nicht hier auf dem Land. Doch allmählich wird das Sortiment um Pfefferkuchen und Zuckerwaren ergänzt. Nun beginnt auch das Verbacken von Fremdteig: Die Bevölkerung trägt eigenen Teig zu Georg Sander, der ihn seinem Ofen Kuchen daraus bäckt.

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1792 stirbt der Bäcker. In Frankreich tobt die Revolution, 1805 ziehen napoleonische Soldaten in Mülheim ein. Georgs Sohn Dietrich übernimmt und ist Mitglied der 1740/41 gegründeten Mülheimer Bäckerzunft. Der hoch geachtete Bäcker entzückt die Kundschaft mit ersten Schokoladentörtchen aus Biskuitboden, Kakaomasse und gehackten Mandeln als Verzierung – sie sind der Hit im Dorf. Im Kohlenkamp in Mülheims Zentrum reihen sich die Gewerbetreibenden aneinander, Schumacher, Metzger, Schreiner und viele mehr.

Die Familientradition geht weiter: Auch Dietrichs Sohn Hermann Gottfried, geboren 1802, arbeitet nun als Bäcker im Sanderschen Unternehmen. Dem Einfluss der Franzosen zufolge bietet er auch Weißbrote feil. Und die Kuchenvielfalt ist inzwischen einmalig in Mülheim: Sandkuchen, Mandel- und Königskuchen, Englischer Kuchen und weitere Köstlichkeiten.

Friedhelm und Anke Großenbeck sind stolz auf die Jahrhunderte lange Erfolgsgeschichte ihrer Firma. „Unser Anspruch ist, die Qualität immer zu halten. Das ist kein Selbstläufer und ausruhen geht gar nicht“, betont das Ehepaar. Friedhelm Großenbeck steht täglich ab 5.30 Uhr mit seinem Team in der Backstube, seine Frau eröffnet um acht Uhr mit den Verkäuferinnen das Café. Die ersten Stammkunden treffen schon zum Frühstück ein. „Wir haben 20 Mitarbeitende“, erklärt Friedhelm Großenbeck, „und wir bilden auch fortlaufend aus.“

Auf Dietrich Sander folgen einige weitere Generationen, bis Friedhelm Großenbeck zum Chef wird. Dietrichs Sohn Hermann, geboren 1802, stellt in der Biedermeierzeit auch sehr begehrte Bonbons her – und Fondants, mit Zucker überzogene Früchte. Erst in der vieren Generation sind die Chefs des Unternehmens dann keine Bäcker mehr, sondern Konditoren.

August Sander, Jahrgang 1841, macht endgültig Schluss mit Brot und Brötchen. Von nun an wird die feine Kundschaft mit Konditor-Kreationen verwöhnt, ab 1868 auch im neu gegründeten Café. Die Familie lässt ihr Stammhaus 1895 abreißen und einen prächtigen neobarocken Neubau errichten. Das sehenswerte Eckhaus mit Kuppeldach liegt am Kohlenkamp 10, an einer der feinsten Adressen Mülheims.

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Gustav Sander (Jahrgang 1881) macht dann den Baumkuchen zum Wahrzeichen der Firma. Und so leben Traditionen und Neuerungen weiter, bis im 2. Weltkrieg mit Ersatzzutaten nach Kriegsrezepten gebacken werden musste. Beide Sander-Söhne starben an der Front, und so führte Gustavs Frau Ermine nach dessen Tod die Geschäfte weiter, unterstützt von ihren vier Töchtern. Der prunkvolle Firmensitz war durch Bomben beschädigt und wurde nicht wieder aufgebaut, sondern fiel der Mülheimer Innenstadt- und Straßenplanung zum Opfer. Fünfzig Meter weiter wurde am Kohlenkamp 12 das neue Stadtcafé Sander geschaffen.

Eine der vier Töchter heiratete 1949 den Konditor Friedrich Großenbeck, Friedhelms Vater. 1963 übernahm er das Familienunternehmen in der 6. Generation und bot zahlreiche neue Torten an. Wie sein Schwiegervater war er zudem Obermeister der Konditoren-Innung. Friedhelm, Jahrgang 1959, wurde wie erwähnt ebenfalls Konditor, seine Schwester Ursula auch, die andere Schwester Monika lernte Konditorei-Fachverkäuferin. Und damit sind wir wieder in der Gegenwart gelandet.

„Die Familienmitglieder waren immer in vollem Einsatz, die kannten keinen pünktlichen Feierabend“, erzählt Großenbeck. Auch seine Tanten, die andere Berufe ausübten – eine war Schulrektorin in Mülheim – halfen in den 1960-er Jahren nach Kräften aus. Er selbst wurde allerdings von seinen Eltern in den Beruf „reingedrängt“: „Es war immer selbstverständlich, dass ich das Familienunternehmen weiterführen würde. Das war schone eine große Bürde“, erzählt der Geschäftsführer. Er und seine Frau üben ihre Berufe zwar mit Leidenschaft aus, aber ihren eigenen Kindern ließen die Großenbecks Freiheit in der Berufswahl. „Unser Café und die Konditorei bleiben entgegen anderslautenden Gerüchten weiter bestehen“, betonen die beiden. Sie selbst wollen noch so lange wie möglich weitermachen.

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Eine der schönsten Zeiten war für den Konditormeister, als seine Frau Anke damals ihre Konditor-Lehre im Betrieb machte. „Wir wollten sie eigentlich gar nicht nehmen, weil sie ihrer Figur zuliebe nichts abschmecken wollte“, amüsiert er sich. „Mein Vater wollte ihr aber eine Chance geben.“ Und jetzt arbeitet das Ehepaar manchmal samstags ab drei morgens einvernehmlich zu zweit in der Backstube.

Der größte Lohn ist für die Großenbecks und ihr Team das Lob der Kundschaft. „Das war wieder Spitze“ oder „ganz große Klasse“, hören sie häufig, und das sei alle Mühen wert. „Eben rief jemand an, dessen Tante von der Torte zu ihrem 90 Geburtstag begeistert war“, erwähnt der Konditormeister. „So was freut uns unheimlich.“ Auch nach Feierabend geht es oft noch weiter: „Die Beratung für eine Hochzeitstorte dauert dann bis zu einer Stunde“, berichtet Anke Großenbeck. Wie die Torten etwa zur Kommunion sind die Kunstwerke zur Vermählung extrem aufwendig herzustellen.

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Bei Torten gibt es Trends: In den 1980-er Jahren war die üppige Ananas-Buttercrèmetorte sehr beliebt, komponiert mit Konfitüre und aufwendigen Schokofächern. Auch Bienenstich wird heute nur noch selten gebacken. Bescheuert fanden die Großenbecks die Mode zu Beginn der Corona-Pandemie: Als alle Klopapier horteten, wollten sie Torten im Klorollen-Look kaufen. „Wir sind da nur eingestiegen, weil jemand auf Social Media behauptet hatte, wir würden diese Dinger machen. Ich habe erstmal 300 Pappteller als Unterlagen dafür gekauft, aber wir haben schließlich weit über 1000 dieser Torten verkauft“, wundert sich der Konditor heute noch. Die Pandemie hat der Betrieb aber gut überstanden: Die Menschen ließen sich, als das Café geschlossen war, Kuchen, Quiches und vieles mehr nach Hause liefern.

Der Baumkuchen ist eine der Spezialitäten in Mülheim.
Der Baumkuchen ist eine der Spezialitäten in Mülheim. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

Die Stammkundschaft liebt eben ihr Stadtcafé Sander. Vormittags um 11 Uhr ist der vordere Bereich des geräumigen Caferaums gut gefüllt mit Gruppen älterer Leute, die Kaffee, Kuchen oder Frühstück genießen und munter plaudern. Um 17 Uhr wird zugemacht, bis dahin herrscht reger Betrieb. Im hinteren Teil sitzen Einzelgänger oder Paare, die es ruhiger haben möchten. Seit dem letzten, aufwendigen Umbau ist auch der Cafebereich über den Verkaufsraum der Konditorei ebenerdig und barrierefrei erreichbar.

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Wöchentliche Stammtische und ewig treue Gäste gibt es hier viele. „Quasi Gesetz ist: Der Kunde kommt rein und setzt sich an SEINEN Tisch“, erklärt Anke Großenbeck. Die Tische und Stühle müssen so stehen wie immer, sonst gibt es Proteste. Ein echtes Drama war die Einführung des Rauchverbots. „Erst hatten wir einen Bereich für Raucher und einen für Nichtraucher“, erklärt Friedhelm Großenbeck. „Aber die Raucher wollten unbedingt an ihren gewohnten Tischen sitzen.“ Inzwischen ist das längst kein Thema mehr.

Die beste Zeit erlebte das Stadtcafé Sander in den 1960-er und 1970-er Jahren. „Da kamen noch zwei Stück Buttercrèmetorte auf den Teller, oder mehr“, erinnert sich der Konditormeister. In den Wirtschaftswunderzeiten waren den Leuten Kalorien egal, da stand der ausgiebige Genuss im Vordergrund.

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Heute möchten die Kunden zwar auch genießen, wollen aber keinesfalls zunehmen. Ein Stück Frankfurter Kranz, Sahnetorte mit Orange und Cointreau oder Cremeschnitte mit Obst geht, dann ist oft schon Schluss. „Wir verwenden so wenig Zucker wie möglich“, verrät Friedhelm Großenbeck. Aber Torten, Kuchen und Pralinen – auch eine besondere Leckerei der Konditorei – ohne Kohlenhydrate, das geht nun mal nicht.

Friedhelm Großenbecks Lieblingssorten sind Aprikosenschnitten mit Vanillecreme, gefolgt von Pflaumen- und Baumkuchen. Anke Großenbeck nascht vorzugsweise Käsekuchen und Apfelstrudel. Wie lecker die Produkte sind, und wie gut der Service, das weiß auch das Fachmagazin „Der Feinschmecker“. Ende vergangenen Jahres nahm es das Stadtcafé Sander in seine Liste der „besten Cafés und Röstereien in Deutschland“ auf, wie schon mehrmals zuvor. Eine hohe Auszeichnung, denn in Mülheim ist es das einzige Café, im Ruhrgebiet eines unter 13 und bundesweit eines unter 597.

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