Essen. Vielen Sterbenden hielt die Essener Intensiv-Pflegerin Nicole Todzy die Hand. Aber das war nicht Schlimmste, sagt sie.
- Die Uniklinik Essen war bundesweit das zweitgrößte Corona-Zentrum. In keinem Krankenhaus in NRW wurden mehr Patienten versorgt.
- Fünf Jahre nach dem Start der Pandemie blicken zwei Männer und eine Frau aus der Essener Intensivmedizin zurück.
- Die Krankenschwester Nicole Todzy erinnert sich allem an die vielen Patienten, die gestorben sind. „Die vielen Toten, das macht was mit einem“, sagt sie.
Uniklinikum Essen, ein Donnerstag im Februar 2025, fünf Jahre nach dem ersten Corona-Fall in NRW: Die Sanitäter schieben gerade einen Influenza-Patienten durch die Schleuse zur IT2. Viele mehr mit einer Grippe-Infektion liegen in einem der 22 Betten dieser Intensivstation im Operativen Zentrum II – aber kein einziger Corona-Patient.
Vor fünf Jahren war das anders, da war diese Station ein „Corona-Hotspot“. Es war einer der Orte, wo Ärzte und Pflegekräfte um das Leben von schwerstkranken Menschen kämpften. Leben, die ein Virus bedrohte, über das man anfangs so gut wie nichts wusste. Nicht, wie es zu behandeln war. Nicht, wie man sich davor schützen konnte. Nicht, wie gefährdet medizinisches Personal bei der Versorgung Erkrankter war. Und es war ein Kampf, der viel zu oft verloren ging. Wie war das damals auf der IT2, fragten wir eine Krankenschwester, einen Arzt und den Klinikchef.
Lesen Sie hier das Protokoll der Krankenschwester Nicole Todzy (53), Krankenschwester mit Fachweiterbildung Intensivpflege und Anästhesie, stellvertretende Leiterin der IT2 der Uniklinik Essen:
„An meinen ersten Corona-Patienten kann ich mich sehr gut erinnern, er lag auf Zimmer 10 der IT2. Es war ein Mann, Mitte 50, aus der Ischgl-Kohorte. Er kam in meinem Spätdienst. Angst, mich bei ihm anzustecken, hatte ich nicht. Ich hatte ja Erfahrung im Umgang mit infektiösen Patienten. Wir hatten zudem Schutzkittel, Masken, Visiere – auch wenn die aus dem 3-D-Drucker kamen und manche der Masken seltsam rochen. Anfangs fehlte es uns an nichts, nicht einmal an Personal. Das änderte sich erst, als der Normalbetrieb der Klinik später nach und nach wieder hochgefahren wurde.
>>> Der Klinikchef: „Ich brauch‘ s ganz sicher kein zweites Mal“ - Lesen Sie hier das Protokoll von Prof. Thorsten Brenner
>>> Der Arzt: „Wir wussten nichts. Da war viel Ausprobieren“ - Lesen Sie hier das Protokoll von PD Frank Herbstreit
An meinen ersten Corona-Toten kann ich mich nicht erinnern. Es waren so viele Tote. So viele Corona-Patienten, die auf der IT2 gestorben sind. Und die haben wir nicht in ihren Betten in die Pathologie geschoben, wie sonst. Wir haben sie in Säcke gepackt und die Reißverschlüsse selbst hochgezogen. Daran erinnere ich mich. Das macht was mit einem, auch wenn man schon 30 Jahre in der Pflege ist.
„Es ist nicht dasselbe, ob einem Sterbenden eine Krankenschwester die Hand hält oder die Tochter
Das Schlimmste aber waren die Telefonate, diese allerletzten Gespräche der Patienten mit ihren Lieben. Diesen Abschied haben wir jedem ermöglicht, bevor wir ihn intubiert und ins Koma versetzt haben. Diese letzten Telefonate, die haben sich mir eingebrannt.
Die meisten Patienten waren da schon so schwach, dass ich ihnen den Hörer ans Ohr halten musste. Und ich wusste genau, er oder sie wird nicht überleben, nie wieder mit seiner Familie reden. Anfangs durften die Angehörigen ja nicht einmal kommen, um beim Sterben die Hand zu halten. Das haben wir Pflegekräfte dann übernommen, niemand ist auf der IT2 allein gestorben. Aber es ist nicht dasselbe, ob einem eine Krankenschwester die Hand hält, oder die Tochter, die Ehefrau.
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Von den Kolleginnen und Kollegen in Bergamo haben wir ganz viel gelernt, auch was unseren eigenen Schutz anging. Etwa, dass unser Nackenbereich der vom Virus am dichtesten besiedelte ist und beim Desinfizieren nicht vergessen werden darf. Oder dass man sich aus den dicken (italienischen) Schutzkitteln gar nicht rausschälen kann, ohne sich zu kontaminieren. Wären wir die ersten gewesen, die es getroffen hätte, und nicht Bergamo – es wäre uns genauso schlecht ergangen wie ihnen.
„Was geblieben ist? Spiegelfolien in den Patientenzimmern“
Als es später hieß, es gibt eine Impfung – da haben alle auf der IT2 sofort die Ärmel hochgerollt und gesagt: Gib mir. Bedenken gab es nur da, wo man nicht so nah dran war. Probleme damit, später auch Impfverweigerer als Patienten zu versorgen, hatte ich aber nie. Ich kümmere mich ja auch um Raucher mit Lungenkrebs.
„Probleme damit, später auch Impfverweigerer als Patienten zu versorgen, hatte ich aber nie. Ich kümmere mich ja auch um Raucher mit Lungenkrebs. “
Dreimal hatte ich Corona während der Pandemie. Wo ich mich angesteckt habe, weiß ich nicht. Nur deswegen bin ich ein paar Tage zu Hause geblieben. Ich habe, wie viele von uns, ganz lange funktioniert. Erst ein halbes Jahr, nachdem alles vorbei war, haben wir gemerkt, wie erschöpft wir eigentlich waren.
Sehr viele sind dann auch raus aus der Intensivmedizin, weg vom Maximalversorger oder ganz raus aus der Pflege. Die Arbeitsbelastung hat Grenzen überschritten, das hat es vorher nie gegeben. Wir hatten in der Hochphase 16 ECMO-Patienten gleichzeitig! Das ist Irrsinn. (ECMO ist ein technisch hochkompliziertes Lungenersatzverfahren). Und in der dritten Welle gab es auch niemanden mehr, der auf dem Flur stand, um Anreichungen zu machen, wenn wir in den Isolierzimmern waren – und alle Patienten auf der IT2 waren da isoliert.
Was geblieben ist von der Pandemie und dem Applaus, mit dem man uns bedachte? Vielleicht ein bisschen mehr Verständnis für unseren Beruf. Und die Spiegelfolien in den Patientenzimmern. Die haben wir während der Pandemie angebracht, damit wir kontrollieren konnten, ob die Schutzkleidung richtig saß. Die hängt da noch immer, die nehmen wir nicht wieder ab.“
Chronik einer Pandemie
27. Januar 2020: Deutschland hat den ersten Corona-Fall: einen Bayern, der sich bei einer chinesischen Kollegin angesteckt hat.
15. Februar 2020: Die Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg wird nach einer Karnevalsparty zum ersten deutschen Corona-Hotspot. Unwissentlich sitzt ein Infizierter unter den 300 Feiernden.
9. März 2020: Erstmals stirbt in Deutschland ein Mensch an Corona, im Essener Uniklinikum – eine 89-Jährige aus Essen.
11. März 2020: Die WHO erklärt die bisherige Epidemie zur weltweiten „Covid-19-Pandemie“.
16. März 2020: In NRW schließen zum ersten Mal Schulen und Kitas.
18. März 2020: Bilder aus dem italienischen Bergamo gehen um die Welt: Sie zeigen Kolonnen von Armeefahrzeugen, die Särge mit Corona-Toten in Krematorien fahren. Die beiden ersten Patienten aus Bergamo, die zur Behandlung aus dem Land geflogen werden, landen im Bochumer St. Josef-Hospital.
23. März 2020: Der erste Lockdown – Bund und Länder haben Maßnahmen-Pakete zur Eindämmung der Pandemie vorgelegt. In NRW etwa gilt seit diesem Tag ein striktes Kontaktverbot, mehr als zwei Personen dürfen in der Öffentlichkeit nicht zusammenkommen. In der Folge bleiben wiederholt die Schulen und Kitas über Wochen dicht. Konzerte, Messen und Hochzeiten werden abgesagt; Alten- und Pflegeeinrichtungen drastisch abgesperrt; private Treffen limitiert. Es gelten AHA- und Mindestabstandsregeln, Masken- und Isolierpflicht, Quarantänebestimmungen für Reisende; Arbeitgeber schicken Beschäftigte ins Homeoffice, und Kirchen Gläubige nach Hause. Theater, Kinos, Museen, Hotels, Restaurants, Schwimmbäder und Fitnessstudios schließen. Einkaufen ist zeitweise nur noch zur Deckung des dringenden Bedarfs und unter strengen Auflagen erlaubt.
24. Juni 2020: Der Schlachtbetrieb Tönnies im Kreis Gütersloh macht bundesweit Schlagzeilen: 1600 Mitarbeiter sind Corona-positiv.
27. Dezember 2020: Die Impfungen beginnen, in den Altenheimen. Die 95-jährige Erika Löwer aus Siegen ist die erste in NRW, die geimpft wird.
18. Februar 2022: In NRW werden an diesem einen Tag 8698 Neuinfektionen gemeldet – Rekord.
28. Februar 2023: Die Corona-Schutzverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen läuft nach 1073 Tagen aus.
5. April 2023: Lauterbach erklärt die Pandemie für beendet. Die WHO hebt einen Monat später auch die internationale Gesundheitsnotlage auf. 20 Millionen Menschen weltweit sind zu diesem Zeitpunkt an Corona gestorben. In Deutschland zählt das RKI insgesamt 39 Millionen bestätigte Infektionen und fast 190.000 Todesfälle.
Eine ausführlichere Chronik finden Sie hier