Ruhrgebiet. Die Lage auf den Intensivstationen im Revier sei „angespannt, aber beherrschbar“, heißt es. In Bochum wurde Patientin aus Sachsen aufgenommen.
Düsterer kann ein Advent kaum sein: Landauf, landab warnen Experten vor der neuen Variante des Virus, explodierenden Infektionszahlen und überlaufenden Intensivstationen – vor einer nicht mehr zu verhindernden Corona-Katastrophe, in der gar eine „Triage“ nötig sein wird: eine Sichtung aller Patienten vor der Behandlung. Die mit den besten Genesungsaussichten wären danach die ersten, die die nötige Therapie erhielten; die mit den schlechtesten die letzten… Wie ernst ist die Lage an den Kliniken im Revier?
Die Situation auf den vier Intensivstationen des Hauses sei „angespannt, aber beherrschbar“, sagt Prof. Christoph Hanefeld, Geschäftsführer des Universitätsklinikums Bochum (KKB). „Und wir hoffen, dass es so bleibt.“ Aktuell gilt Eskalationsstufe 1 im KKB, die jüngst modifizierte Skala reicht von 0 bis 4. Fünf bis sechs Corona-Patienten würden in diesen Tagen auf einer Intensiv-, weitere 15 bis 20 auf einer Infektionsstation betreut. Am gestrigen Mittwochnachmittag übernahm das St. Josef-Hospital sogar noch eine Schwerkranke aus Sachsen, dem Land mit der bundesweit höchsten Inzidenz (1.269) . Dort sind bereits über 40 Prozent aller Intensivbetten mit Corona-Patienten belegt. In NRW sind es 13, in Bochum rund 5,5.
Die Lage ist regional sehr unterschiedlich
Auch das Klinikum Dortmund hat noch „Luft“, in den vergangenen Tagen wurden zwei Corona-Kranke aus überlasteten Häusern in den Niederlanden und aus Bayern dorthin verlegt, berichtet Sprecher Marc Rasche. Man beobachte vor Ort „einen leichten Zuwachs“ an Covid19-Patienten, denke über die Eröffnung einer zweiten Normal-Station nur für diese Patienten nach, „aber den großen Run auf die Intensivstation merken wir noch nicht“. Es sei „viel Panik im Markt“, doch die Lage regional sehr unterschiedlich. Auch in der Stadt Dortmund sind laut „Divi-Intensivregister“ noch keine sechs Prozent aller Intensivbetten mit Corona-Patienten belegt.
In der Essener Universitätsmedizin (UME) werden aktuell 53 Corona-Patienten versorgt, 26 davon auf der Intensivstation. „Das ist viel“, erklärt Prof. Jochen Werner, der ärztliche Direktor. Kein anderes Krankenhaus in NRW zähle derzeit mehr. Die Zahl sei „stabil, auf relevantem Niveau“, findet er – auch wenn man in zweiter und dritter Welle „in der Spitze“ schon 150 Patienten betreut habe (davon 50 intensiv).
Triage ist Alltag für Notfallmediziner
Noch ist die Katastrophe also nicht da, jedenfalls nicht hier im Revier. „Triage ist angesichts unserer Belegung auf Intensiv noch kein Thema“, heißt es im Klinikum Dortmund. Raschke: „Es gibt für Ernstfälle Leitlinien. Aber da sind wir noch weit entfernt.“ Auch im Bochumer KKB und in der Essener Universitätsmedizin liegen die Triage-Pläne seit langem in der Schublade. Interdisziplinäre Teams haben sie erarbeitet, haben darin etwa verfügt, wer im Fall der Fälle entscheidet (ein Team erfahrener Kollegen) – damit es nicht der junge Assistenzarzt, der gerade Dienst hat, allein tun muss. „Die Pläne sind jederzeit aktivierbar“, sagt Werner. „Noch ist das aber nicht nötig.“ Er sei „guter Hoffnung“, versichert Hanefeld, „dass sich eine Corona-bedingte Triage vermeiden lässt.“
Dabei ist Triage für Ärzte nichts Außergewöhnliches. In der Notfallmedizin ist sie Alltag. Bei jedem „MANV“ (Massenanfall von Verletzten), einem schweren Zugunglück etwa, ist die Aufgabe des ersten Arztes vor Ort ausschließlich: Gucken, wer wie schnell Hilfe benötigt. In jeder ZNA, der Zentralen Notaufnahme, wird „triagiert“, nach dem Manchester-Prinzip. Ankommende Patienten werden danach fünf farblich unterschiedlichen Gruppen zugeteilt. Rot steht für hochdringliche Fälle, die sofort versorgt werden müssen: das Unfallopfer mit offener Fraktur und Gefäßverletzung etwa. Ein Sportler mit schmerzenden Prellung am Fuß dagegen würde blau markiert: Er kann warten, notfalls bis zu 120 Minuten.
450 Leichensäcke: „Das macht was mit Pflegekräften, Ärzten und Ärztinnen“
Dass im KKB irgendwann entschieden werden muss, dieser Patient kommt an die Beatmungsmaschine und jener nicht, kann sich Hanefeld kaum vorstellen – auch wenn er davon ausgeht, dass es „ab Mitte Dezember bis in den Januar hinein randvoll“ werden wird auf den Intensivstationen. Doch die vielen Kliniken in NRW hätten „deutliche Reserven“. Und wenn es einer zu viel werde, könnte eine andere übernehmen. Ein „SPoC“ (Single Point of Contact) in Köln organisiere für NRW die Verlegung von Patienten in andere Kliniken, um Überlastungen zu vermeiden.
Um ihre Mitarbeiter, pflegerisches wie ärztliches Personal, sorgen sich die Klinikchefs mehr: Seine Mannschaft, sagt Werner, sei „erschöpft“ nach fast zwei Jahren Pandemie – und er versteht das gut. Dachte er doch selbst, als er in der vergangenen Woche erstmals von Omikron hörte: „Nicht auch das noch!“ 450 der insgesamt 3000 Corona-Patienten, die seit Beginn der Pandemie in der Essener Unimedizin versorgt wurden, überlebten die Infektion zudem nicht. „450 Tote“, erklärt Werner, „heißt: 450 Leichensäcke, die abtransportiert wurden. Das mit anzusehen, das macht was mit Pflegekräften, Ärzten und Ärztinnen.“ Zumal viele Covid-Patienten lange auf der Intensivstation lägen, „drei, vier, fünf Wochen oft“. „Da lernt man auch die Familien des Kranken gut kennen. Das bewegt jeden.“
220 Pflegende haben ihre Jobs seit Beginn der Pandemie gekündigt
220 Pflegende der UME haben seit März 2019 gekündigt. „Einige haben den Beruf ganz gewechselt, andere in eine Zeitarbeitsfirma, wo sie besser verdienen, mancher ins Medizinstudium.“ Für alle, die gingen, kamen neue und es kamen sogar ein paar mehr, „weil wir ein attraktiver Arbeitgeber sind“, glaubt Werner. Dennoch sei diese Zahl „viel zu hoch“. „Denn mit jedem Mitarbeiter, den wir verlieren, geht auch Kompetenz verloren“, so der Essener Klinikchef.
„Die Leute sind ermattet, sie sind mürbe. Und zunehmend gefrustet“, bestätigt Hanefeld fürs KKB. Vor anderthalb Jahren „konnte keiner was dafür, wenn er sich mit dem Virus infizierte. Dass inzwischen so viele sehenden Auges ins Unglück laufen, ist schwer zu akzeptieren.“ Es gebe doch eine ganz klare Korrelation zwischen der Zahl der Ungeimpften und der Zahl der Intensivpatienten, in allen Bundesländern wie im internationalen Vergleich.
75 Prozent der intensivpflichtigen Corona-Patienten in Essen sind ungeimpft
75 Prozent der Corona-Patienten auf der Intensivstation der UME seien tatsächlich ungeimpft, und nur sehr wenige vollständig immunisiert – und die hätten dann ein meist gestörtes Immunsystem, zum Beispiel nach Transplantation oder Leukämie, berichtet Werner. Auch das mache zu schaffen. „Für uns ist es schwierig nachzuvollziehen, warum sich mancher, der bei uns aufgenommen wurde, nicht einfach hat impfen lassen.“ Der „Unmut“ darüber nehme spürbar zu. Jüngst erst sei eine überzeugte Corona-Leugnerin betreut worden. Eine Frau, die keine Maske tragen wollte, die noch auf der Intensivstation erklärte, das Virus sei harmlos. Ihre Erkrankung nahm einen schweren Verlauf – „und natürlich wurde auch sie professionell behandelt“, betont Werner. „Das Beispiel aber verdeutlicht eine komplette Verkennung der Realität. Solche Fälle sind eine zusätzliche Belastung, die niemand braucht.“
Noch mussten keine (elektiven/verschiebbaren) Operationen abgesagt werden, wie es zu Beginn der Pandemie der Fall war, berichtet Hanefeld. Aber die Ankündigung einer entsprechenden Anordnung des Landesgesundheitsministers sei bereits eingetroffen. Ihn schmerzt das. Notfälle, Schwerkranke und Corona-Patienten verdienten gleichermaßen die bestmögliche Therapie. Den Balanceakt hinzubekommen, nennt Hanefeld „die größte Herausforderung“ in diesen Wochen.
„Wenn sich alle an die Regeln hielten...“
In der UME belegten die 53 Corona-Patienten derzeit nur „einen verschwindend geringen Teil“ der insgesamt 1600 Betten, so Werner. Doch auch er sorgt sich um Schlaganfall-, Herzinfarkt- und andere schwer kranke Patienten oder Unfallopfer. Diese müssten die Notaufnahme weiterhin anfahren können. „Da dürfen wir nicht an unsere Grenzen kommen.“ Erst ein einziges Mal, während eines Streiks, habe sich die Notaufnahme der UME „abgemeldet“. Dass das nie wieder passieren werde: „Würde ich niemals sagen“, räumt Werner ein. Aber es gelte, alle Maßnahmen zu ergreifen, um das zu verhindern. Was eben auch bedeute, einen weiteren Anstieg der Infektionszahlen zu verhindern.
Wenn sich alle an die bekannten Regeln hielten, sagt Hanefeld, „wäre so viel möglich“. Da die Menschen es nicht täten, bliebe wohl nur: die Kontakte erneut zu reduzieren. „Und zwar radikal“, meint Marc Raschke vom Klinikum Dortmund. „Aber irgendwie fehlt in der Bevölkerung der Wille, da konstruktiv noch mitzumachen. Deshalb glaube ich persönlich, dass wir einen Lockdown bekommen werden müssen.“
Klinikchef: „Die Politik hat zu lange nur zugeschaut“
Essens Klinikchef Werner kann nicht verstehen, dass die Politik so lange „nur zuschaute, was das Impfverhalten vor allem in den Bundesländern betraf, deren Infektionszahlen schon vor Wochen explodierten“. In NRW, denkt er, sollten Karnevalsfeiern und zu volle Fußballstadien in den nächsten Monaten vermieden werden. Werner hofft aufs Frühjahr. Durch diesen Winter, fürchtet er, „müssen wir durch“. Und durch den nächsten dann hoffentlich nicht wieder.
>>>>INFO: Omikron – Wie gefährlich ist die neue Virus-Variante?
Sorge bereitet derzeit auch die in Südafrika neu entdeckte Variante des Virus: Omikron. Erst in zwei Wochen, sagt Prof. Hanefeld wisse man vielleicht mehr über deren Gefährlichkeit, ob man es tatsächlich mit einer „echten Problemvariante“ zu tun habe.
Erste Verdachtsfälle in Essen hatten sich nicht bestätigt. Doch solange die Fachleute keine Entwarnung gäben, so Prof. Werner, „nehmen wir die neue Variante extrem ernst“.