Essen. Enkel hüten, Partner pflegen, weiter im Job arbeiten. Warum die Jahre vor dem Ruhestand für viele nur wenig mit Ruhe zu tun haben.

Frauen in ihren Sechzigern am Rande des Nervenzusammenbruchs? Männer „in den besten Jahren“ mit Burn-out? So mancher in diesem Alter fragt sich, ob das Leben zum Erleben da ist und man mal mehr lockerlassen kann – oder ob es darin bestehen muss, eine endlose To-do-Liste abzuarbeiten und abends nur noch auf dem Sofa abzuhängen, oft gefolgt von schlechtem Schlaf und dem Gefühl beim Aufwachen, dem Berg von Aufgaben nicht gewachsen zu sein.

Als junge Menschen dachten wir, alte Leute – und dazu zählte für uns jeder ab 60 – würden entspannt auf einer Bank vorm Haus sitzen und stricken, auf ihr Leben zurückblicken und alle Probleme dank Altersweisheit gelöst haben. Sie würden mit dem Dackel Gassi gehen, mit dem Nachbarn schwatzen, den Garten umgraben.

So läuft das aber längst nicht immer.

Da gibt’s Dieter, der halbtags arbeitet, schon seit er 55 Jahre ist. Er sagt: „Das Geld reicht mir.“

Und Katja hat gar keinen Job, weil ihr Ehemann schon immer das Geld für beide verdient hat.

Elke wiederum hat von ihren Eltern deren Haus, das Ferienhaus und die Aktien geerbt. Sie reist um die Welt und gibt hawaiianische Massagen.

Diese drei Privilegierten sind sicher nicht der Durchschnitt in Sachen Ruhestand. Viele Menschen Anfang bis Mitte 60 sehen den Ruhestand zwar schon verlockend am Horizont schimmern, stecken aber voll im Alltagsstress fest. Wer erst mit 40 Mutter oder mit 50 Vater wird, hat eben mit 60 oder 70 ein „kostspieliges“ Kind in der Ausbildung oder im Studium. Viele tragen Verantwortung für auf Pflege angewiesene Eltern. Das kostet Zeit, Kraft und Nerven.

Andere „Sixties“ werden selbst krank nach einem langen Arbeitsleben. Wer sich im Job hochgearbeitet hat, trägt in den letzten Berufsjahren oft viel Verantwortung. Oder verliert, wenn er sich finanziell schon in Sicherheit wähnt, plötzlich doch den Job. Und wer einen guten Job hat, der Spaß macht und Befriedigung bringt, sieht sich vielleicht dem alltäglichen E-Mail- und Meetingtrott ausgeliefert.

So sieht der Alltag bei Andrea Hartung aus: Der Sohn will sein Studium hinschmeißen und dreht am Rad, die 86-jährige Mutter braucht dringend einen Platz im Pflegeheim. Die beste Freundin hat eine Ehekrise und muss sich ausheulen. Im Job drängelt der Chef mit dringenden Aufgaben. Die staubige Wohnung ruft „Putz mich endlich!“, und längst wären einige medizinische Vorsorgetermine fällig, die man ab 60 unbedingt machen soll. Komischerweise ist auch der Kühlschrank schon wieder leer. Da ruft Tante Inge an: „Wann besuchst du mich endlich mal?“

„Wann besuchst du mich endlich mal?“

Tante Inge

Sonja Weber, 62, erzählt: „Ich arbeite in der offenen Ganztagsbetreuung. Das macht Freude, ist aber ziemlich anstrengend. In meiner Freizeit kümmere ich mich vor allem um meinen 90-jährigen Vater. Er weigert sich strikt, aus seinem Einfamilienhaus auszuziehen, obwohl er kaum noch laufen und sehen kann. Da lebe er schließlich seit 60 Jahren. Einen Pflegedienst lehnt er ebenfalls ab.“ Das heißt: Sonja Weber pflegt und versorgt ihren Vater täglich. Zudem ist sie oft für ihre zwei kleinen Enkel im Einsatz, weil beide Eltern voll berufstätig sind. Auszeiten für sie selbst sind selten; ihre wenigen Urlaube dauern höchstens ein paar Tage.

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Anders Klaus Sander, 66. Er ist noch voll als Außendienstler berufstätig. Aufgrund der Insolvenz seiner früheren Firma und eines nicht abgezahlten Eigenheims hat er Schulden und muss weitermachen. Für ein international agierendes Unternehmen ist er in ganz Deutschland unterwegs und auch mal in London oder Paris. Online-Meetings gibt es von morgens bis spät abends. Das Gehalt ist gut, aber er ist fast rund um die Uhr eingespannt und kümmert sich zudem mehrmals in der Woche um einen alten Onkel. Ruhe hat er nur morgens ab 5 Uhr ein Stündchen, wenn er aufgestanden ist. Sein Plan, mit Ende 50 aus dem Berufsleben auszuscheiden? Tja, das war wohl nichts.

Stress ist eines der Hauptübel im 21. Jahrhundert. In Umfragen für 2025 wird bei den guten Vorsätzen oft „weniger Stress“ an erster Stelle genannt. Stress macht schlechte Laune, nervös und schließlich auch krank. Das Nervensystem steht unter Daueranspannung, dafür ist es aber nicht gemacht. Es funktioniert nämlich noch wie in der Steinzeit: Bär nähert sich – Mensch fährt automatisch die Systeme hoch und rennt weg – Gefahr ist vorüber, Mensch entspannt sich wieder. Daueranspannung ist vom Organismus weder vorgesehen noch gesund.

„Ich arbeite in der offenen Ganztagsbetreuung. Das macht Freude, ist aber ziemlich anstrengend. In meiner Freizeit kümmere ich mich vor allem um meinen 90-jährigen Vater. Er weigert sich strikt, aus seinem Einfamilienhaus auszuziehen, obwohl er kaum noch laufen und sehen kann. Da lebe er schließlich seit 60 Jahren. Einen Pflegedienst lehnt er ebenfalls ab.“

Sonja Weber
pflegt ihren Vater

Viele Menschen befinden sich in permanenter Alarmbereitschaft. Unser Stresssystem ist jedoch nur für kurzfristige „Bedrohungssituationen“ ausgelegt. Es muss sich danach immer wieder erholen können, wenn es auf Dauer wohlbehalten bleiben soll. Dauerhaftes Stresserleben kann zu schwerwiegenden Fehlregulationen des Nervensystems führen und zu den psychosomatischen Beschwerden, die viele von uns plagen: „Rücken“, eine gestörte Verdauung, Kopfschmerzen, Magenprobleme, Schlafstörungen und anderes. Sich als Individuum an die hohen Anforderungen mit erhöhtem persönlichem Einsatz anzupassen, kann bis zum Burn-out führen. So ein körperlicher und seelischer Zusammenbruch passiert, wenn sich die Stressspirale immer höher schraubt, man aber die drohenden Folgen ausblendet. „Das schaffe ich auch noch, soo ausgelaugt bin ich doch gar nicht, das wird schon wieder.“ Nein, wird es ohne energische Bremse oft eben nicht.

Die Biochemikerin und Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt schreibt in ihrem Buch „Resilienz. Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft“, der Arzt Hans Selye habe 1936 den Begriff Stress überhaupt erst erfunden. Vorher sagte niemand „Ich bin ja so im Stress“, obwohl Stress „seit der Steinzeit“ bekannt sei. Aber eben im Wechsel mit Entspannung. Der Soziologe und Publizist Harald Welzer, Jahrgang 1958, schildert in seinem Buch „Nachruf auf mich selbst“, wie ihn 2020, also mit Anfang 60, ohne Vorwarnung ein Herzinfarkt aus allen Aktivitäten riss. Durch diesen Schock – er hatte Angst, zu sterben – habe er seine „Unsterblichkeitsillusion“ verloren und seine Wertigkeiten neu sortiert. Er sage seitdem viel öfter als früher: „Das mache ich jetzt nicht, den Termin nehme ich nicht wahr, die Verpflichtung ist keine Verpflichtung.“ Harald Welzer erzählt, er streichle stattdessen lieber seine Katzen…

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