Neuss. Alexandra aus NRW bekam nach ihrer Fehlgeburt keine Krankschreibung – und keine Zeit zu trauern. Das wird ein neues Gesetz in Zukunft verhindern.
- Der Bundestag hat ein neues Gesetz zum Mutterschutz nach Fehlgeburten verabschiedet.
- Dabei wird es gestaffelte Schutzfristen ab der 13. Schwangerschaftswoche geben.
- Alexandras Geschichte zeigt, warum das wichtig ist.
Zwei Wochen, nachdem sie Mats begraben hatte, saß Alexandra bei ihrer Frauenärztin. „Bluten Sie noch?“, fragte sie. Alexandra schüttelte den Kopf. „Dann ist ja alles in Ordnung. Dann kann es ja weitergehen“, sagte die Ärztin. Alexandra antwortete nicht. „Ich hatte keine Kraft, ihr zu widersprechen. Ich hatte ja gerade erst mein Kind verloren“, erinnert sie sich.
Heute, fast fünf Jahre später, hat sie auf ihrem Arm drei Sterne und sechs Herzen tätowiert. Alexandra hat drei ihrer Kinder noch während der Schwangerschaft verloren. Zeit zu trauern, hatte sie nicht.
Neues Gesetz soll Mutterschutz nach früheren Fehlgeburten ermöglichen
Nach einer Fehlgeburt hatten Frauen in Deutschland bisher keinen Anspruch auf eine längere Regenerationszeit. Das wird sich nun ändern. CDU, SPD und Grüne haben noch vor der Bundestagswahl ein Gesetz verabschieden, das es Frauen nach einer früheren Fehlgeburt ermöglicht, in den Mutterschutz zu gehen.
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Dabei gibt es nun gestaffelte Schutzfristen ab der 13. Schwangerschaftswoche. Bislang galten die besonderen Schutzrechte erst, wenn die Frau ihr Kind ab der 24. Schwangerschaftswoche verliert oder es mehr als 500 Gramm wiegt.

Alexandra und ihr Mann hatten bereits fünf Kinder, als sie im Winter 2019 mit Zwillingen schwanger wurde. Die beiden würden ihre Familie komplett machen, dachten sie. Bis die Gynäkologin beim Ultraschall in der zwölften Schwangerschaftswoche „ewig nach etwas zu suchen schien“. Als sie sagte, dass sie keinen Herzschlag findet, brach für die Eltern eine Welt zusammen.
„Vielen Dank, Sie haben es geschafft“
Alexandra, so sagt sie es im Rückblick, funktionierte nur noch und arbeitete die To-Do-Liste ab, die die Ärztin ihr mitgab: Ab ins Krankenhaus gegenüber, einen Termin für die Ausschabung machen. „Einen Tag später hieß es: ,Vielen Dank, Sie haben es geschafft. Hier ist der Zettel für die Nachsorge und eine Krankschreibung für zwei Wochen. Alles erledigt. Auf Wiedersehen!‘“, erzählt Alexandra.
Niemand im Krankenhaus habe die Eltern gefragt, wie es ihnen geht. Niemand habe ihnen gesagt, was mit ihren Zwillingen passierte. „Wir haben erst später erfahren, dass sie nicht im Müll gelandet sind, sondern zusammen mit anderen Sternenkindern im Schmetterlingsgrab der Klinik.“
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Kurz nach der Fehlgeburt wurde Alexandra wieder schwanger. Als sie in der zwölften Schwangerschaftswoche den Ultraschall vor sich sah, achtete sie nur auf das Herz. Es schlug. „Ich war so erleichtert“, erinnert sie sich. „Aber trotzdem war etwas auffällig. Und dann stellte sich nach vielen Untersuchungen heraus, dass mit dem kleinen Mann etwas nicht in Ordnung war.“
Im Sommer 2020 kam Alexandra ins Krankenhaus. Auf der Geburtsstation hörte sie die anderen Babys schreien. Als Mats in der 16. Schwangerschaftswoche auf die Welt kam, blieb es still im Zimmer. Die Familie begrub ihn auf einem Friedhof in Düsseldorf. Jedes Jahr an seinem Geburtstag besucht sie ihn dort, lässt Luftballons steigen.
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Mats wäre dieses Jahr fünf Jahre alt geworden. Wie würde er wohl aussehen? Womit würde er am liebsten spielen? Daran denkt Alexandra oft. Was eine Fehlgeburt mit Eltern macht, auch Jahre danach, sei für Außenstehende nur schwer nachzuvollziehen.

Ein norwegisches Forschungsteam hat herausgefunden, dass Betroffene vermehrt eine Angststörung, Depression oder Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Meist geht es ihnen im Laufe der Zeit besser, manche leiden aber auch bis in die nächste Schwangerschaft oder darüber hinaus unter psychischen Beschwerden.
Trotzdem denken viele Betroffene laut Studien, sie müssten sofort wieder funktionieren. Das liege auch daran, dass noch zu wenig über das Thema gesprochen wird – obwohl nach Schätzungen des Berufsverbands der Frauenärzte etwa jede dritte Frau eine Fehlgeburt hat.
„Sei doch froh, dass du schon fünf gesunde Kinder hast“
Damit ihr Verlust anerkannt wird, ist das neue Mutterschutz-Gesetz wichtig, findet Alexandra. „Das ist ja wirklich schlimm, was Ihnen passiert ist. Aber jetzt konzentrieren wir uns mal wieder auf den Job“ oder „Sei doch froh, dass du schon fünf gesunde Kinder hast“: Sprüche wie diese musste sie sich oft anhören. „Natürlich war ich glücklich über meine Kinder“, sagt sie. „Aber ich habe trotzdem Babys verloren, auf die ich mich so sehr gefreut habe. Und da ist es egal, ob man schon Kinder hat oder nicht.“
Nachdem ihre Frauenärztin sie nach Mats Geburt nicht weiter krankschrieb, ging sie zu einem anderen Gynäkologen. „Mal abgesehen davon, dass ich körperlich noch nicht bereit war, wollte ich auf keinen Fall zurück ins Büro. Mein Bauch war gerade noch riesengroß. Und dann komme ich auf einmal ohne Bauch zurück? Das hätte ich ja allen erklären müssen.“
Dem neuen Arzt musste Alexandra sich nicht erklären. Er fragte sofort, ob vier Wochen Auszeit vom Job genug wären und ob sie noch psychologische Hilfe bräuchte. „Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass es okay ist, wenn ich noch Zeit brauche, um zu trauern“, sagt Alexandra.
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Die Trauer überkommt sie noch heute manchmal. Dass sie so offen über die Fehlgeburten sprechen kann, liegt auch daran, dass sie im Herbst 2021 eine gesunde Tochter geboren hat. Sie hat die Familie komplett gemacht, so Alexandra: „Und wenn ich unsere Familie sage, dann meine ich damit auch die Zwillinge und Mats.“
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