Essen. Die Erstbesteigung des Matterhorns durch Edward Whymper wurde durch vier Opfer überschattet. War die Ursache übersteigerter Ehrgeiz des Briten?

Einsam. Gewaltig. Unbezwingbar. Dieser Berg ist 4448 Meter hoch. Er entstand vor 40 Millionen Jahren und bildet ein Tal-Ende – dort, wo heute Italien und die Schweiz aneinander grenzen. „Horu“ nennen die Bewohner des Kanton Wallis ihr Matterhorn. Mit seiner spektakulären Form schreckte es immer schon die Menschen ab – und lockt sie gleichermaßen in Massen an. Mitte des 19. Jahrhunderts stürmten Bergpioniere aus ganz Europa die Gipfel der alpinen Ketten, viele kamen aus England. Doch diesen Viertausender hatte lange keiner besiegt – bis zum 14. Juli 1865.

An diesem Tag, kurz vor dem Gipfel, machten sich der Londoner Edward Whymper und der erfahrene französische Bergsteiger Michel Croz los vom Seil, das bisher alle sieben Kletterer ihrer mutigen Seilschaft zusammengehalten hatte. Mit genau diesen Worten wird es Whymper viele Jahre erzählen. Die zwei wollten die ersten sein. „Um viertel vor zwei Uhr lag die Welt zu unseren Füßen. Das Matterhorn war besiegt“. Besiegt?

Für Whymper wird sein größtes Abenteuer zum größten Trauma. Als die Kolonne nach einer Stunde Verschnaufpause auf dem Gipfel zurück ins Zermatter Tal will, stürzen vier der sieben Gipfelstürmer über 1000 Meter in die Tiefe. Drei Leichen werden anderntags am vergletscherten Bergfuß geborgen. Das vierte Opfer bleibt bis heute verschwunden.

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Die Mischung aus Triumph und Tragik schockt den Kontinent. Allein die britische „Times“ schreibt vierzig Artikel zu der Tragödie. Und Queen Victoria plant ernsthaft den gesetzgeberischen Eingriff: Sie will britischen Bergsteigern die gefährliche Gipfelstürmerei in den Alpen verbieten.

Nie ist die Diskussion verstummt, wie es zur Tragödie kommen konnte. War es überhaupt ein Unglück, ein verhängnisvoller Ausrutscher und ein darauf folgender Seilriss? Oder kappte einer der Kletterer das Seil, um sich selbst in dramatischer Lage zu retten? Immer wieder entstanden neue Theorien, wechselten die Antworten auf bohrende Fragen. Nach langer Zeit, das 20. Jahrhundert hatte bereits begonnen, rutschte dem überlebenden Whymper gegenüber einem Freund ein scheinbar verräterischer Nebensatz heraus. Der Zeuge notierte diese Bemerkung. Noch einmal fast ein halbes Jahrhundert blieb diese Notiz der Welt verborgen. Doch der Whympersche Satz führt womöglich auf die richtige Spur.

Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen als Kind eines Londoner Holzdruckers, entwickelte Whymper künstlerisches Talent. Ein Verleger wurde auf ihn aufmerksam und schickte den jungen Mann in die Alpen, um dort in den Bergen an seinem malerischen Können zu arbeiten. Trainiert durch tägliche Läufe von einem Ende der englischen Hauptstadt zum anderen, begann der junge Edward bei den Besuchen der Schweiz mit dem Bergsteigen. Mehrere Erstbesteigungen sammelten sich auf seinem Konto. Zeitgenossen beschrieben den Briten als eher eigenbrötlerisch, arrogant im Umgang mit anderen, vor allem aber zielstrebig. Der Matterhorngipfel forderte ihn besonders heraus.

Sieben Mal ist auch Whymper am Wahrzeichen der Eidgenossen gescheitert. Mitte Juli 1865 würfelte der Zufall eine neue Seilschaft zusammen: Innerhalb von 48 Stunden traf der 25-jährige auf den Franzosen Jean Antoine Croz, beide machten mit dem schottischen Sportler Lord Francis Douglas Bekanntschaft. Der Geistliche Reverend Charles Hudson und der 19-jährige Douglas Hadow schlossen sich an. Alle hatten einen Wunsch: Rauf aufs „Horu“. Warum also nicht gemeinsam den Gipfelsturm angehen? Als ortskundige Bergführer heuerte die in dieser Zusammensetzung unerfahrene Truppe Vater und Sohn Taugwalder aus Zermatt an.

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Der Anmarsch der Siebenerkolonne über den Hörnligrat verlief problemlos, auch, weil sie mit einem mit neuester Technik entwickelten Seil des britischen Alpine Club ausgestattet waren. Mittendrin zog sich ein fester roter Faden. Als Reserve diente ein dünneres, weit weniger tragfähiges Seilstück älterer Produktion. Die Nacht verbrachte die kleine Mannschaft auf einer Hütte. Bei gutem Wetter erreichte sie am nächsten Mittag die Bergspitze. Whymper pflanzte eine Fahne auf und hinterließ in einer Flasche ein Papier mit den Namen seiner Matterhorn-Eroberer.

Das Nachsehen hatte die konkurrierende Seilschaft des Italieners Jean Antoine Carrel. Die wollte von der italienischem Seite bei Breuil oberhalb des Aostatals fast zeitgleich einsteigen. Der Plan: Ein Wettlauf nach oben. Carrel wollte den Briten Whymper blamieren und als Italiener die politische Einheit Italiens krönen, die 1865 erst vier Jahre alt war. Als er die Konkurrenz hoch über sich höhnisch winken sah, kehrte er niedergeschlagen um. Carel wird nur wenige Tage später mit einer Bergsteigergruppe als Erster das Matterhorn von der italienischen Seite aus bezwingen.

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Abstiege können schwerer fallen als der Weg nach oben. Das ist eine allgemeine Erfahrung unter Bergsteigern. Eine zweite: Auch im Hochsommer sind Felsen der Viertausender oft vereist. Das Whymper Team macht sich auf den Rückweg. Der erfahrene Croz geht einer ersten Gruppe voran. Hadow, Neuling an solch schwierigem Berg, folgt. Dahinter Reverend Hudson und Lord Douglas. In einigem Abstand klettert zunächst Vater Taugwalder bergab, dann schließen sich dessen Sohn und Whymper an, der den Gipfel als letzter verlässt.

Eine undatierte Aufnahme aus dem 19. Jahrhundert zeigt den britischen Bergsteiger Edward Whymper. Whymper bestieg als erster Mensch mit sechs weiteren Männern am 14.07.1865 das Matterhorn in der Schweiz.
Eine undatierte Aufnahme aus dem 19. Jahrhundert zeigt den britischen Bergsteiger Edward Whymper. Whymper bestieg als erster Mensch mit sechs weiteren Männern am 14.07.1865 das Matterhorn in der Schweiz. © dpa

Die erste und die zweite Gruppe sind jeweils intern mit Stücken des neuen, starken Alpine-Club-Seils verbunden. Bergführer Taugwalder aber nimmt das dünnere Reservestück, um sich mit Douglas zu verbinden und damit die beiden Gruppen miteinander. Warum nutzte er die gefährlichere Lösung? Die Frage sollte zum entscheidenden Geheimnis des Bergdramas werden.

„Etwa um drei Uhr nachmittags“ und kurz unterhalb des Gipfels, so Whympers Aussage, macht die Gruppe eine Art Sicherungspause. Was jetzt passiert, ist Sache von Sekundenbruchteilen. Whymper erinnert sich: Croz habe versucht, Hadow zu sichern. Hadow sei dabei auf dem eisigen Fels ausgeglitten und ins Bodenlose gestürzt. Croz habe er dabei mitgerissen. Whymper später: „Ich hörte von Croz einen Ausruf des Schreckens, sah ihn und Hadow niederwärtsfliegen.“ Im nächsten Moment seien auch Hudson und Lord Douglas „die Füße unter dem Leibe weggerissen worden“. Die obere Gruppe mit Whymper und den beiden Bergführern spürt den heftigen Ruck, den die Stürzenden auslösen, die Männer können sich aber noch am Fels festklammern. Dann „riss zwischen Taugwalder und Lord Douglas das Seil“, erinnerte sich Whymper später. Die vier unteren Bergsteiger fielen in die Tiefe. Die drei oberen blieben schreckerstarrt im Berg zurück.

„Ich hörte von Croz einen Ausruf des Schreckens, sah ihn und Hadow niederwärtsfliegen.“

Edward Whymper
Bergsteiger

Als die drei Überlebenden am nächsten Morgen in Zermatt eintreffen, ist das Dorf tief betroffen. Whymper und die Taugwalder reden nicht mehr miteinander. Whymper wird in den nächsten Tagen vor einen Untersuchungsausschuss geladen – und von jeder Schuld freigesprochen. In Gesprächen aber lässt der Engländer durchblicken, es könne auch sein, dass Taugwalder Senior bewusst das dünne Tau gewählt habe. Und die „Wiener Zeitung“ mutmaßt, jemand – also Vater Taugwalter – habe vielleicht im Augenblick des Sturzes dieses Reserveseil gekappt, um sich, den Sohn und Whymper zu retten. Für die Familie Taugwalder bedeutet dieser Verdacht eine lebenslange Last.

44 Jahre später, im Herbst 1909, besucht ein junger Mann mit seinem Vater ein Treffen des Londoner Alpine Club: Arnold Lunn, der später als Pionier des alpinen Skisports in die Sportgeschichte eingehen wird. „Dort ist Whymper“, sagt der Vater zu Arnold, und der Sohn bekommt bald mit, wie der berühmte Erstbesteiger des Matterhorns noch einmal die Story von seinem Gipfelsturm zum Besten gibt.

Er, Whymper, und Croz hätten sich vom Seil „losgelöst“, um durch einen Spurt die Matterhorn-Spitze zu erreichen. Losgelöst? Was bedeutet das konkret, fragt sich Lunn. Bis er 1949, Whymper ist da schon seit 38 Jahren tot, auf einen Bericht eines A.E.W. Mason stieß. Von diesem Bericht wurde im Alpine Club immer mal wieder erzählt. Lunn macht einen Brief ausfindig, der den Inhalt der Gerüchte bestätigen könnte. Mason hatte darin geschrieben, wie Whymper ihm „nach einem guten Essen“ zugeraunt hat: „Wenn ich so nachdenke, glaube ich, dass ich das Seil hinter mir abgeschnitten habe, um das Rennen gegen Croz zu gewinnen.“

Nicht beim Abstieg also sondern vielmehr beim Aufstieg. „Wenn dies der Fall war, so wurden beim Abstieg schlechte Seile genutzt, weil Whymper zuvor das bessere durchschnitten hatte“, schlussfolgert Lunn und ist überzeugt: Bergführer Taugwalder hatte bei der Rückkehr vom Gipfel keine andere Chance, als mit dem übrig geblieben Reservetau die Gruppen zu verbinden. Es gab ja kein anderes. Das alte Seil wiederum konnte den Ruck, der durch den Absturz ausgelöst wurde, nicht aushalten. Es riss.

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