Essen. Ist es in Ordnung, Israel einen Völkermord zu unterstellen? Vom Recht auf Meinungsfreiheit ist das gedeckt. Unanständig ist es dennoch.
Dass die Reflexhaftigkeit in den Debatten seit Jahren zunimmt, ist ein Zeichen für die krisenbedingte Überforderung unserer Gesellschaft und ihrer auch daraus resultierenden immer tieferen Spaltung. Parolen lösen Argumente ab. Wo vernünftige Analyse und Sachkritik angebracht wären, wird derart emotional herumgeschrien und persönlich herabgewürdigt, dass man den Begriff „Debatte“ als zivilisatorische Kulturtechnik schon gar nicht mehr bemühen will. Im sich zuspitzenden Nahostkonflikt ist das beispielhaft zu beobachten. Wer die Politik Israels kritisiert, wird ruckzuck als Antisemit verunglimpft, und wer die Hamas als das bezeichnet, was sie ist, nämlich eine gewissenlose Terror-Organisation, der spricht den Palästinensern angeblich ihr Existenzrecht ab. Tatsachen werden negiert oder verdreht in einem Maße, dass man sich fragen muss, was davon durch unsere Meinungsfreiheit eigentlich gedeckt ist – und was die Grenzen dessen, was eine wehrhafte Demokratie zulassen kann und will, überschreitet.
Ich habe insofern erst einmal viel Sympathie für den letztlich gescheiterten Versuch von Politik und Polizei, eine Anti-Israel-Demonstration in Essen ausgerechnet am 7. Oktober, dem Jahrestag des Hamas-Überfalls auf wehrlose Männer, Frauen und Kinder in Israel, zu verhindern oder zumindest die schlimmsten Parolen einzudämmen. Ich bin nicht der Meinung, dass eine demokratische Gesellschaft unter dem Deckmantel der Meinungs- und Versammlungsfreiheit wirklich alles aushalten muss. Ungehemmte Freiheit, die anderen Menschen ihre Freiheiten nimmt (zum Beispiel den bei uns lebenden Jüdinnen und Juden, bei uns ein sicheres Leben zu führen), ist ein Widerspruch in sich. Deshalb stößt jede individuelle Freiheit an rechtlich definierte Grenzen. Das vergessen so manche „Freiheitskämpfer“ gerne mal bei ihren Egotrips.
IGH verhandelt Genozid-Vorwurf
Und doch hatte ich sofort ein Störgefühl, als ich las, dass die Polizei von den Demonstranten gefordert hatte, „Genozid“-Plakate einzurollen. Die Unterstellung, Israel begehe im Gaza-Streifen einen Völkermord, sei antisemitisch und somit nicht zulässig, hieß es zur Begründung. Tatsächlich zeigte sich sehr schnell, dass die Polizei hier zu restriktiv war, und zwar leider mit Ansage. Denn noch im Dezember vergangenen Jahres hatte das Oberverwaltungsgericht in Münster entschieden, es sei „nicht ersichtlich, inwiefern die Parole ,Stoppt den Genozid/Völkermord‘ als ,Billigung‘ der Straftaten der Hamas, insbesondere des Terroranschlags vom 7. Oktober 2023, zu verstehen sein soll“. Auch für einen juristischen Laien wie mich wäre schwer begreiflich, warum Menschen in Essen offen ein Kalifat fordern dürfen, wie vor knapp einem Jahr geschehen, aber etwas nicht zum Thema machen sollen, was sogar vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) der Uno verhandelt wird.
„Ist der Vorwurf des Völkermords gegenüber Israel antisemitisch?“, fragte uns postwendend auch der frühere Gründungsrektor der Universität Duisburg-Essen, der emeritierte Professor für Öffentliches Recht, Lothar Zechlin, in einem Leserbrief an die Redaktion. Auch er verwies auf die Befassung des IGH mit dem Genozid-Vorwurf seit Dezember 2023 und lieferte die Antwort auf seine Frage gleich mit: „Auch wenn sich der Vorwurf am Ende des Verfahrens als unzutreffend erweisen sollte, kann seine Erhebung und Erörterung deshalb nicht als antisemitisch gebrandmarkt werden. In Deutschland werden mit ihm auch nicht die Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten. Das wäre erst bei über die bloße Meinungskundgabe hinausgehenden unfriedliche Aktionen der Fall, insbesondere im Fall der Volksverhetzung. Das bloße Mitführen eines entsprechenden Transparentes auf einer Demonstration überschreitet diese Grenzen nicht.“ Zitat Ende.
Täter-Opfer-Umkehr
Um es gleich klarzustellen: Ich halte den Genozid-Vorwurf für absurd und bösartig. Die UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords von 1948 war eine unmittelbare Antwort auf den Holocaust, auf die von den Nazis betriebene, beispiellose industrielle Vernichtung der Juden. Dass sich Südafrika mit seiner Klage gegen Israel vor dem IGH ausgerechnet auf diese Konvention beruft, dass es dadurch Israel quasi zum Nachfolger des Nazi-Regimes brandmarken will, ist schon eine besonders perverse Form der Täter-Opfer-Umkehr und eine zugleich bemerkenswert ahistorische Verharmlosung der Schoah.
Wer einen Genozid unterstellt, der unterstellt definitionsgemäß eine Vernichtungsabsicht gegen ein ganzes Volk. Dieser Nachweis ist bisher nur selten juristisch gelungen, etwa nach dem Massaker von Srebrenica. Genozidale Absichten wird man selbst dieser vergleichsweise radikalen israelischen Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu kaum unterstellen können, auch wenn einzelne Aussagen von Regierungsmitgliedern und das zum Teil maßlose militärische Vorgehen gegen die Feinde Israels äußerst irritierend sind.
Ganz anders sieht es bei der Hamas aus. Sie verbrämt ihre völkermörderischen Absichten nicht einmal. Vielmehr gehört die Vernichtungsabsicht gegen Israel zu ihrem Selbstverständnis, ist Teil ihrer DNA. Was war denn der 7. Oktober anderes als ein genozidaler Akt? Warum haben Staaten wie Südafrika hier nicht aufgeschrien, als Babys in ihren Bettchen abgeschlachtet wurden, als seien die Hamas-Kämpfer keine Menschen, sondern wilde Tiere?
Israelische Kriegsverbrechen
Israel hatte und hat jedes Recht, sich dagegen zu verteidigen und seine Existenz zu sichern. Aber, und das ist kein kleines „Aber“, es muss dabei trotzdem verhältnismäßig vorgehen, weil es keine Gleichheit im Unrecht gibt – und da darf man doch erhebliche Zweifel anmelden. Die Ballungsräume Gazas sind nach den Angriffen Israels nicht mehr länger bewohnbare Steinwüsten; selbst dort, wo es angeblich Schutzräume geben sollte, in die das israelische Militär Zivilisten geschickt hatte, fielen später Bomben; die Verhinderung von Hilfsgüterlieferungen hat weite Teile der Bevölkerung in Gaza hungern lassen. Es sieht sehr danach aus, dass die israelische Regierung hier eine Reihe von Kriegsverbrechen zu verantworten hat. Auch das gehört zur Wahrheit.
Man kann sagen, dass der Staat Israel der Terrororganisation Hamas auf den Leim gegangen ist, indem er so maßlos zurückgeschlagen hat. Kommandozentralen unter Krankenhäuser und Schulen zu verstecken, musste sich für die Hamas gemäß ihrer kranken, zynischen Logik als Win-Win-Situation herausstellen: Entweder würden es die Israelis nicht wagen, solche auch völkerrechtlich besonders geschützten Ziele ins Visier zu nehmen, sodass die Hamas ungestört ihr Unwesen treiben könnte; oder Israel nimmt viele zivile Opfer in Kauf, macht sich dadurch in der Weltöffentlichkeit unmöglich, verliert wichtige Verbündete, während sich die Palästinenser weiter radikalisieren und die Terroristen dadurch neuen Zulauf bekommen. Diese Eskalation war geplant, war gewollt. Der Plan ist leider aufgegangen.
Deutsche Staatsräson
„Die Sicherheit Israels ist für uns Staatsräson“: So steht es sogar im Vertrag der Ampelkoalition. Die Bundesaußenministerin, die viel besser arbeitet, als ihr die ewigen Grünen-Hasser nachsagen wollen, hat in einer klugen Rede im Bundestag hervorgehoben, dass die deutsche Staatsräson das Existenzrecht Israels immer mit dem humanitären Völkerrecht verbindet. Insofern kann die Bundesregierung auch bei Waffenlieferungen an Israel nicht blind dafür sein, was mit diesen Waffen anschließend passiert.
All das kann und darf thematisiert werden, offen, differenziert, ohne Schaum vor dem Mund. Kritik an Israel ist nicht nur erlaubt, sondern auch geboten. Wer Israel einen Genozid unterstellt, der darf das juristisch tun, stellt sich aber moralisch ins Abseits, zumal dann, wenn er kein Wort zu den Gräueltaten der Hamas verliert, wie es bei den Pro-Palästina-Demos üblich ist.
Rechtlich verboten ist dagegen, wer auf deutschem Boden das Existenzrecht Israels leugnet. Das können und werden wir uns nicht gefallen lassen, zumal die Rechtssprechung hier klar und streng ist. „From the river to the sea, Palestine will be free“ ist eine inakzeptable Losung, zumindest im Kontext einschlägiger Demonstrationen, weil damit eben nicht nur gemeint ist, dass Palästina im Sinne einer friedlichen Koexistenz frei sein möge vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer, sondern es um die Auslöschung des gesamten Staates Israel geht. Das Polizeipräsidium Duisburg hatte einer Demo-Veranstalterin die Parole im April zu Recht als Straftatbestand untersagt, urteilte jetzt das Verwaltungsgericht Düsseldorf, weil sich die verbotenen Organisationen Samidou und Hamas diese Parole „durch ständige Übung zu eigen gemacht“ hätten und diese somit für die Organisationen stehe.
„Wir stehen an ihrer Seite.“
Es ist grundsätzlich gut, wenn der Staat hier hart durchgreift und – ganz im Sinne des Essener Oberbürgermeisters Thomas Kufen – damit Zeichen sendet, „dass sich Menschen jüdischen Glaubens in Essen und NRW sicher fühlen und wir an ihrer Seite stehen“. Dass der Staat auch einmal daneben liegen kann, dass die Gratwanderung bei der Frage, wo die Meinungsfreiheit endet, im Einzelfall nicht gelingt, muss einkalkuliert werden. Hinterher ist die Polizei dann schlauer und macht es besser. Denn die nächste Demo kommt bestimmt.
Auf bald.
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