Essen. Ein Jahr ist der Angriff der Hamas auf Israel nun her – seitdem lebt Sarah in ständiger Angst. Was die Jüdin aus NRW in diesem Jahr erlebt hat.

Wie hat sich das Leben seit dem Krieg im Nahen Osten hier in Nordrhein-Westfalen verändert? Sarah hat nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wie im Nebel gelebt. Die Studentin aus dem Ruhrgebiet hat Familie und Freunde in Israel. Jeden Morgen prüft sie zuerst die Nachrichten. Aber nicht nur um ihre Liebsten sorgt sich die 21-Jährige: Sie selbst wird wegen ihres jüdischen Glaubens teils massiv angefeindet. Zu ihrer Sicherheit möchte Sarah ihren Nachnamen derzeit nicht öffentlich nennen. Im Protokoll erzählt sie, wie sie das vergangene Jahr erlebt hat:

„Am siebten Oktober war ich den ganzen Tag über in einer Schockstarre. Ich konnte einfach nicht begreifen, dass das Land, in dem meine Familie und Freunde leben, angegriffen worden war. Dann gingen mir ganz viele Gedanken auf einmal durch den Kopf: Wie geht es meinen Liebsten? Wie wird sich das Leben nun verändern? Und wie werden meine Beziehungen zu meinen nicht jüdischen Freunden künftig aussehen?

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Jüdin über Leben im Ruhrgebiet: Freunde wendeten sich ab

Die Woche danach habe ich wie im Nebel erlebt. Ich war im ständigen Kontakt mit meinen Liebsten in Israel und hier in Deutschland viel in der jüdischen Gemeinde. Es hat gutgetan, mit Menschen zusammen zu sein, denen es ähnlich geht. Jeden Tag habe ich die Nachrichten verfolgt, mein erster Blick wanderte morgens direkt auf mein Handy. Und jeden Tag gab es etwas Neues – mal wurde hier eine Synagoge angezündet, mal wurden Häuser von Menschen aus meinem Umfeld beschmiert. In den ersten Wochen und Monaten nach Ausbruch des Krieges war für mich gefühlt jeder Tag der siebte Oktober.

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Von meinem Umfeld habe ich in Teilen viel Solidarität erfahren. Aus der jüdischen Community habe ich neue Freunde aus verschiedenen Städten dazugewonnen. Wir waren füreinander da. Ein paar Freunde habe ich in dieser Zeit allerdings auch verloren. Denn von meinen nicht jüdischen Freunden hat sich fast niemand gemeldet. Es wurde so getan, als wäre nichts passiert. Ihr Schweigen hat mich enttäuscht. Mit der Zeit habe ich versucht, ihre Gründe dahinter zu verstehen. Der Nahost-Konflikt ist ein komplexes Thema, viele kennen die Zusammenhänge nicht.

Antisemitismus in den sozialen Medien stark verbreitet

Doch einige in meinem Umfeld sind sogar einen Schritt weiter gegangen. Sie haben in den sozialen Medien antisemitische Posts abgesetzt. Darunter waren Verschwörungstheorien oder Aussagen, dass alle Juden Kindermörder seien. Und sie haben das, was momentan in Gaza passiert, mit dem Holocaust verglichen. Auch hier verstehe ich, dass man den Staat kritisieren kann. Und das Leid auf beiden Seiten anerkennt. Aber die Handlungen des Staates auf alle Jüdinnen und Juden zu projizieren und die Geschehnisse mit dem Holocaust zu vergleichen, ist einfach nur antisemitisch und moralisch verwerflich. Ich weiß, dass Antisemitismus tief in der Gesellschaft verankert ist. Über das Ausmaß bin ich trotzdem jedes Mal wieder schockiert.

Anfangs habe ich meinen Davidstern noch getragen. Als mir jedoch ein Fremder auf der Straße „Scheiß Jüdin“ hinterherrief, habe ich ihn abgelegt. In den sozialen Medien gingen die Beleidigungen weiter. Man wolle das jüdische Volk auslöschen, hieß es dort zum Beispiel. Das Gefühl der ständigen Bedrohung ist schlimm. Ich lebe hier im Ruhrgebiet ein ganz normales Studentenleben, gehe zur Uni, schreibe meine Klausuren. Seit dem Angriff begleitet mich dabei eine ständige Nervosität bis hin zur Existenzangst.

Jüdin: „Meine Gedanken Kreisen um die aktuellen Geschehnisse“

Zum Glück gibt es in meinem Leben auch immer wieder Lichtblicke und Momente, in denen ich abschalten kann. Als ich für ein paar Tage mit meiner Familie im Urlaub war, zum Beispiel. Oder als ich mit Freunden auf einer Party gefeiert habe. Eigentlich immer dann, wenn ich weg von den Nachrichten und Social Media bin. Ich möchte natürlich weiterhin im engen Kontakt zu meinen Liebsten stehen. Aber ich habe bewusst Detox-Phasen eingeführt, in denen ich das Handy ganz bewusst zur Seite lege.

Bis vor wenigen Tagen ging es mir den Umständen entsprechend gut. Ich hatte die Hoffnung in mir, dass in den nächsten Monaten alles besser wird. Ich saß gerade am Schreibtisch und habe für die Uni gelernt, als die Nachricht kam, dass der Iran Israel angegriffen hat. Ein Rückschlag, der mich plötzlich wieder so traurig gemacht hat. Ich konnte mich nicht mehr aufs Lernen konzentrieren, meine Gedanken kreisten wieder nur um den Krieg. Mein allergrößter Wunsch liegt deshalb auf der Hand: endlich Frieden.“