Essen. Aktivisten haben eine AfD-Veranstaltung mit Piepsern gestört. Soll man das sympathisch finden oder kontraproduktiv? Eine Analyse.

Piepsalarm in der Philharmonie, wummernde Bässe von der Techno-Bühne davor: Aktivisten feiern sich dafür, die AfD-Versammlung in Essen am Donnerstag verunmöglicht zu haben. Soll man das sympathisch finden, vielleicht sogar notwendig, weil die AfD ihrerseits die Demokratie untergräbt? Oder ist es im Gegenteil ein Bärendienst und obendrein moralisch falsch? Über den Umgang mit der AfD darf man zerrissen sein. Wir wollen hier die Argumente klären.

Was ist überhaupt passiert?

Die AfD hatte zum Bürgerdialog in Essen geladen. Schon die Musik bei der Gegendemo-Party im Stadtgarten war so gewählt, dass die Bässe die Veranstaltung in der benachbarten Philharmonie störten. Den Rest besorgten Aktivisten, die sich für den „Bürgerdialog“ angemeldet hatten und störende Taschenalarm-Piepser ausgelegt hatten, vor Ort auch „Schrilldinger“ genannt. Einige Störer leisteten Widerstand, als sie des Hauses verwiesen wurden.





Nicht nur Security, auch Besucher des AfD-Treffens packten teils hart zu, als immer mehr Gegendemonstranten im Saal mit kleinen Sendern die Veranstaltung störten.
Nicht nur Security, auch Besucher des AfD-Treffens packten teils hart zu, als immer mehr Gegendemonstranten im Saal mit kleinen Sendern die Veranstaltung störten. © FUNKE Medien NRW | Frank Stenglein

Warum ist das wichtig?

Die AfD gilt in drei Ost-Bundesländern als gesichert rechtsextrem und wird insgesamt wegen „verfassungsfeindlicher Bestrebungen“ vom Verfassungsschutz beobachtet. Sie prägt bereits heute das Leben in Teilen Deutschlands. Der „Schrillding“-Vorfall ist nicht der erste Versuch, AfD-Veranstaltungen zu verhindern, und er wird nicht der letzte bleiben. Der Blockadeversuch beim Bundesparteitag der AfD Ende Juni, ebenfalls in Essen, war noch radikaler: AfD-Politiker sollten mit Blockaden am Betreten der Grugahalle gehindert werden und wurden sogar in einer Bäckerei festgesetzt.

Protestformen, die Gesetze brechen, haben sich etabliert – und teils sind sie erfolgreich: Der Hambacher Forst steht noch, die Besetzung dieses Restwaldes hat 2020 die Stimmung gedreht und die Konditionen des Kohleausstiegs beeinflusst. Die Klimakleber dagegen scheinen eher eine Mehrheit gegen sich aufzubringen.

Solche Proteste werden zunehmen und sie verändern die Art, wie Zivilgesellschaft und Politik kommunizieren. Wer politisch interessiert ist, wird genötigt, eine Haltung zu finden. „Schrillding“ ist ein guter Anlass für diese Suche: Darf man Recht brechen, weil man sich moralisch im Recht wähnt?

Juristisch betrachtet

In Artikel 20, Absatz 4 des Grundgesetzes heißt es: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Dieses Widerstandsrecht wird vielen als Erstes in den Sinn kommen, wenn sie Störaktionen gegen die AfD bewerten sollen. Es wurde allerdings auch von Gegnern der Corona-Maßnahmen bemüht.

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Mit diesem Widerstandsrecht richtet sich die Verfassung direkt an den Bürger. Er ist die letzte Linie der Verteidigung unserer Demokratie. Allerdings liegt die Betonung auf „letzte Linie“. Denn die Hürden sind hoch: Der Staat selbst müsste korrumpiert sein. Seine Institutionen müssten versuchen, die demokratische Ordnung in Gänze abzuschaffen. Einzelne Maßnahmen genügen nicht. Schon gar nicht, wenn es sich nur um Pläne innerhalb einer Partei handelt, die nicht in Verantwortung steht und in der verschiedene Flügel streiten. Vergessen wir also das Grundgesetz und stapeln eine Runde tiefer.

Zu Straßenklebern und Baumbesetzern ist die Rechtsprechung uneinheitlich. Grundsätzlich kann man sagen, dass Gerichte Straßenblockaden in manchen Fällen durchgehen lassen, wenn sie einen durch und durch friedlichen Charakter haben, wenn sie verhältnismäßig sind und eng mit der Sache zu tun haben. Auf die Festsetzungen vor dem AfD-Parteitag in der Grugahalle oder auf den Schrillding-Vorfall dürfte das nicht zutreffen.

Moralisch gesehen

„When they go low, we go high.“ – Diesem Satz von Michelle Obama ging eine Rede über ihre Kinder voraus: Wie soll man ihnen Hassrede und öffentliches Mobbing von Politikern erklären, die Verrohung der Kommunikation? Wenn die anderen die Regeln brechen, halten wir sie hoch – so könnte man den Satz übersetzen.

Obama folgt damit der Linie des deutschen Philosophen Immanuel Kant und anderer Vertreter der „deontologischen Ethik“. Die besagt, dass es Prinzipien gibt, nach denen eine Handlung „in sich“ gut oder schlecht ist. Obama schlägt vor, stets bei den demokratischen Gepflogenheiten zu bleiben, egal wie der politische Gegner sich aufführt. Dies steht im Gegensatz zur „konsequentialistischen Ethik“, die grob besagt, dass eine Handlung dann gut ist, wenn ihr Ergebnis gut ist (oder moralisch wünschenswert).

So sah der friedliche und genehmigte Protest vor der Philharmonie aus.
So sah der friedliche und genehmigte Protest vor der Philharmonie aus. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Nun wurde zuletzt viel darüber geschrieben, dass der Ansatz „We go high“ gescheitert sei. Dass selbst Barack Obama in seiner Rede auf dem demokratischen Parteitag gegen Donald Trump ausgeteilt hätte. (Wer sich die Rede allerdings anschaut, kann darin zwar scharfe Attacken erkennen, aber keine unter der Gürtellinie.) Eher drückt sich in diesen Kommentaren eine Ungeduld aus, eine Hilflosigkeit angesichts des Erfolgs der Populisten. Die These darin: Gegen einen Gegner der schmutzig spielt, mit Lügen und Hetze arbeitet, gegen den muss man selbst hart austeilen.

Übersetzt auf Essen: Während die friedlichen Demonstranten gegen die AfD, die Musiker und Redner bei „ihren“ Werten geblieben sind und sich Tiefschläge verkniffen haben, ging es den Aktivisten mit den Störsendern um das Ergebnis.

Für beide Haltungen kann man ethische Begründungen finden, so ist das mit der Philosophie. Aber wenn man nun unsicher ist, zu welchem Wertesystem man tendiert, hilft vielleicht dieser Gedanke: Man könnte einen Schritt zurücktreten und mit Michelle Obama fragen: Wie erkläre ich es meinen Kindern?

Mal ganz pragmatisch

Aber nun konkret: Nutzt ein solcher Protest der AfD nicht eher? Ermöglichen solche Protestformen ihren Politikerinnen und Politikern nicht . . .

  • sich als Opfer zu inszenieren,
  • die Störer, regelkonforme Protestierende und politische Gegner in einen Topf zu werfen,
  • und demokratische Kräfte als undemokratisch darzustellen, letztlich als Täter.
  • Das schließt ihre Reihen und führt zu einer weiteren Verhärtung der Fronten.
  • Die AfD kann mit Verweis „auf Essen“ ähnliche Störaktionen starten und (scheinbar) legitimieren,
  • die Eskalation in Wortwahl und Tat auf allen Ebenen weitertreiben,
  • und so die politische Kultur noch mehr vergiften.
  • Wovon letztlich nur sie profitiert, denn je weniger noch differenziert geredet werden kann, desto attraktiver erscheinen einfache Scheinlösungen.
  • Man muss auch davon ausgehen, dass die Populisten einfach besser darin sind, Diskussionen zu verunmöglichen – und dass sie den längeren Atem haben. Nichts anderes versuchen viele AfD-Politiker in Stadträten und Parlamenten: die Arbeit zu erschweren und die Demokraten zu zermürben.
  • Hand aufs Herz, würden Sie Lokalpolitik machen wollen mit der Aussicht auf diesen täglichen Kleinkrieg? . . . Nein? Und wer bleibt dann übrig? . . . Genau, die AfD.

Andererseits . . .

  • ist die AfD tatsächlich gefährlich für die demokratische Ordnung.
  • Sie ins Stolpern zu bringen, und sei es mit Taschenalarm-Dingern, ist zwar nur ein eher symbolischer Akt.
  • Aber die Auseinandersetzung mit der AfD ist längst „asymmetrisch“. Sie selbst macht verächtlich, drangsaliert Gegner, ist sehr konsequent darin, die demokratischen Prozesse in Stadträten und Parlamenten zu torpedieren. Da muss sie auch einstecken können.
  • Solange der Protest friedlich bleibt und nur in den Ohren schrillt und wummert, ist das noch kein Zivilisationsbruch. (Die Festsetzung von Menschen ist eindeutig ein Schritt zu viel.)
  • Demokratische Politiker brauchen die Unterstützung der Zivilgesellschaft. Und die braucht „Erfolge“, vielleicht auch mal kleine schmutzige Erfolge.
  • Und vielleicht fallen einem ja beim Nachdenken über so einen Schrillding-Vorfall auch noch bessere Argumente oder Protestformen ein . . .