Ruhrgebiet. Nach dem Abreise-Stau von Gelsenkirchen stehen Bus und Bahn in der Kritik. Warum Fans wissen sollten, was „Schienenersatzverkehr“ ist.
Gelsenkirchen, Spanien gegen Italien: am zweiten Spieltag 58 Busse und 45 Bahnen im Einsatz, aber dafür fällt kurz das Licht aus. Düsseldorf, Slowakei gegen Ukraine: Wegen einer Reparatur geht auf der Hauptstrecke nach Köln am Freitag nicht mehr viel. Irgendwas ist immer, worüber die Fans schimpfen könnten bei dieser EM. Blamiert sich der deutsche Bahn- und Nahverkehr beim Heimturnier?
„Blamage?“ Oliver versteht die Frage nicht. „Welche Blamage? Die deutsche Mannschaft spielt doch gut.“ Aber die Deutsche Bahn, fährt die auch gut? Kurzer Blick in die englische Runde, die am Dortmunder Hauptbahnhof auf einen Zug wartet. „Bisher“, sagt der 38-Jährige, „gab es keine Probleme.“ Oder doch, diese Ausnahme: „Gelsenkörken“. Da sei die Rückfahrt nach dem Eröffnungsspiel – jetzt mal dezent übersetzt – „bescheiden gelaufen“. Erst gegen drei Uhr nachts waren sie wieder in ihrem Hotel. „Und wir waren nicht die letzten.“
Deutsche Bahn: Briten angetan, Schweizer entsetzt
Schnee von Sonntag, abgehakt. „Wir haben ja gewonnen.“ Grundsätzlich, sagt Olivers Kumpel Aaron, seien sie sogar überrascht über deutsche Busse und Bahnen. „Sauberer und moderner als bei uns.“ Aber fahren denn auch genug? Und sind sie nicht alle überfüllt? Wieder schüttelt Oliver den Kopf. „Fahr mal zur Rush-Hour mit der U-Bahn in London, dann weißt du, was überfüllt heißt.“ Es ist alles eine Frage der Perspektive.
Denn „bei uns“ gibt es solche Bahn-Probleme nicht, sagt Werner auf seinem Weg von Köln nach Frankfurt. „Bei uns“ ist die Schweiz, wo die „SBB“, die Schweizerische Bundesbahn, über die Gleise rollt. „Immer sehr pünktlich“, behauptet Werner, und sauberer sowieso. Überhaupt habe er den Eindruck, es laufe nicht rund bei der Europameisterschaft. Er meint nicht seine „Nati“, er meint den Service: „Was glauben Sie, wie lange ich in Köln immer auf mein Essen gewartet habe? Die haben alle viel zu wenig Personal überall.“
Schotten sind zufrieden, „solange es Bier gibt“
Oder zu viele Besucher. Natürlich sind mindestens die Spielorte an Spieltagen gepackt voll mit Fans aus der europäischen Nachbarschaft. In Bochum trafen sie zudem mit Grönemeyer-Fans zusammen, die aus anderen Gründen aus dem Stadion kamen. In Köln wurde es rund um den Heumarkt am Mittwoch so eng, dass die komplette Altstadt für den Verkehr gesperrt wurde. Auch Bahnen fuhren gar nicht mehr. Aufgeregt aber hat sich kaum jemand. „Das kennen die Leute vom Karneval“, sagt ein Wirt. Und die Schotten? „Solange es Bier gibt“, ist eine Bedienung überzeugt, „spielt der Rest keine Rolle.“
In anderen Austragungsorten in NRW läuft der Verkehr aus schlicht stadtplanerischen Gründen besser: Dortmund etwa hat gleich drei Haltestellen in Stadionnähe, nach dem Spiel Türkei gegen Georgien am Dienstag sei „der Veranstaltungsbereich bereits eine Stunde nach Spielende fast komplett geräumt“ gewesen, meldet die DSW 21. Zudem ist das Stadion vom Hauptbahnhof aus auch fußläufig zu erreichen, Dortmund hat den Fans eigens einen gut dreieinhalb Kilometer langen rasengrünen Teppich zu Füßen gelegt.
In Dortmund und Düsseldorf brauchen Fans nur gut eine Stunde
„Dortmund war toll“, sagt deshalb Maurizio, da ist es noch vor dem Donnerstags-Spiel in Gelsenkirchen. Die Fahne zusammengerollt, das Gesicht schon blau-weiß geschminkt, so steht der Italiener am Iserlohner Hauptbahnhof. Auf zum zweiten Gruppenspiel, Maurizio hat wieder Karten. Nach dem Sieg gegen Albanien seien sie „ganz ohne Probleme“ wieder in die Dortmunder Innenstadt gekommen. Und auch die Düsseldorfer Rheinbahn meldet, sie habe nach dem Spiel Frankreich gegen Österreich 25.000 Menschen innerhalb von 75 Minuten zurück in die Stadt gebracht.
In Gelsenkirchen schärften sie das Konzept vor der Partie Spanien gegen Italien nach, mehr Busse und Bahnen, eine zusätzliche Bedarfshaltestelle. Dass just dort in der Nacht nach dem 1:0 die Straßenbeleuchtung ausfiel, der Bereich gesperrt werden musste, hat nun mit dem Verkehr nichts zu tun.
Dabei hatte sich nach dem Ärger um das Sonntagsspiel sogar der Verkehrsminister eingeschaltet. „Einzelne Pannen oder Verspätungen“ seien zwar nie ganz zu vermeiden, sagte Oliver Krischer, „schnellstens“ aber müssten die Verkehrsunternehmen nachsteuern. Die setzten am Donnerstag außerdem einen „nächtlichen Verstärkerzug“ Richtung Düsseldorf und Köln auf die Gleise, um jene nach Hause zu bringen, die sich für die EM in den beiden Großstädten eingemietet haben. 2400 Menschen fuhren mit. Allerdings entschieden sich Spanier und Italiener in der Mehrzahl für das Auto.
- Ridiculous: Englischer Fanverband entsetzt von Gelsenkirchen
- Abreise-Chaos nach EM-Spiel auf Schalke? England-Fans wüten
- Engländer spotten über Gelsenkirchen und bleiben fern (noch)
- ÖPNV-Stresstest zur EM: Warum wir gerade nicht gut aussehen
- Abreise-Chaos der Engländer: VRR-Chef verteidigt ÖPNV
Schon die ganze Woche wehrt sich der vielkritisierte Nahverkehr gegen die harsche Kritik. „Wir haben versucht, alles Menschenmögliche zu tun“, sagte VRR-Chef Oliver Wittke. Ein Bogestra-Sprecher erklärte, als Verkehrsunternehmen habe man „einen Job gemacht, der adäquat war“. „Auf der Schiene ist alles unterwegs, was rollen kann“, meldete eine Sprecherin von DB Regio NRW. Die Deutsche Bahn verteidigte sich entschieden, sprach von „Generalkritik“ ohne „Maß und Mitte“. Der für Bahnhöfe zuständige Vorstand sagte gegenüber dieser Zeitung: „Wenn 50.000 Leute aus dem Stadion strömen, bekommen naturgemäß nicht alle die erste Bahn.“
Die Bahn baut: Österreicher stranden in Passau
Entschuldigt hat sich das Unternehmen indes bei Fans aus Österreich: Aus dem Nachbarland waren einige am Montag zu spät zum Spiel ihrer Mannschaft in Düsseldorf gekommen, manche sogar erst zur zweiten Halbzeit. Der Grund: Auf einer der letzten Baustellen Deutschlands, die zum Turnier nicht rechtzeitig fertig geworden seien, sei kurzfristig eine Maschine kaputtgegangen. In Passau ging die Fahrt zunächst nicht weiter, von 15 Stunden Anreise wurde berichtet und Tausenden Gestrandeten. Mindestens Letzteres ist hoffnungslos übertrieben, es gehe um 150 betroffene Fans, zählte die Bahn. Trotzdem sorry, die Verspätung sei natürlich „total ärgerlich“ gewesen, auch wenn ein Fan das drastischer ausdrückte: Man habe der Deutschen Bahn wohl „ins Hirn g‘schi**en“, wurde er in beiden Ländern zitiert.
Die Begründung für den unfreiwilligen Aufenthalt dürften zumindest die Österreicher verstanden haben: „Schienenersatzverkehr“. Denn apropos Verstehen: Viele Durchsagen an den Bahnhöfen und in den Zügen erfolgen trotz der vielen Gäste aus dem Ausland auch in diesen Tagen nur auf Deutsch. In Dortmund setzt die DSW 21 auf Freiwillige, die die jeweilige Landessprache der gerade in der Stadt spielenden Mannschaften sprechen; über Lautsprecher informieren sie geradezu babylonisch.
Wie übersetzt man „Gleiswechsel“ oder „Oberleitungsschaden“?
Eine Essener U-Bahn aber stoppte in dieser Woche mit einem technischen Defekt, auch für Engländer ging die Fahrt nicht weiter. Warum, haben sie nicht verstanden, wie es weitergehen könnte ab Hauptbahnhof, auch nicht. Was, wenn sie erst „Stellwerksausfall“ begreifen müssen, Gleiswechsel oder „Oberleitungsschaden“, wie am Freitag in Düsseldorf? Oder dieses sehr menschliche Problem: In einem Regionalzug zwischen Aachen und Minden sind die WCs defekt, seit einer Woche schon. Menschen laufen hektisch durch die Waggons, die Zugbegleiterin kann nicht helfen: Die hat dieselben Sorgen.
„Eure Schnellzüge haben fast immer Verspätung“
Im Dortmunder Hauptbahnhof hat Luka aus der Slowakei mindestens das Wort für „Weiche“ bereits gelernt. „Eure Schnellzüge haben fast immer Verspätung“, sagt er, der aus Frankfurt auf dem Weg nach Düsseldorf ist, und guckt auf die große Anzeigetafel in der Halle. Und er hat recht. Auch an diesem Morgen sind die nächsten drei ICE alle unpünktlich – teils bis zu 35 Minuten. Mal sind Menschen auf den Gleisen, dann Tiere. Hier ist eine Leitung defekt, da muss eben die Weiche repariert werden. „Schon merkwürdig“, findet Luka.
Der „Spiegel“ mokierte sich bereits, die Fußballfreunde könnten wohl Deutschland besiegen, „ihr verliert aber gegen die Deutsche Bahn“. Die „taz“ spottet über die „Entdeckung der Langsamkeit“, die Fußballreporter von „11 Freunde“ schieben eine befürchtete Blamage der deutschen Mannschaft nach zwei Siegen ebenfalls auf Bus und Bahn. „Vergessen Sie alles, was sie über deutsche Effizienz zu wissen glaubten“, lästert die New York Times. „Sänkju for trewwelink wiss Deutsche Bahn“?
Das Passau-Problem der österreichischen Fans hat diese übrigens inzwischen gelöst, die Züge rollen wieder. Heute müssen die „Ösis“ nach Berlin. Kein SEV mehr im Weg, dafür „Unwetterschäden zwischen Würzburg und Nürnberg“. Eine halbe Stunde Verspätung ist schon mal angekündigt.