Gelsenkirchen. „Selbstzufriedenheit“: Englische Fußballfans sind nach dem EM-Spiel entsetzt. Stadt Gelsenkirchen und Bahn weisen die Kritik zurück.
Sie warteten mehrere Stunden auf die Bahn und kamen nicht vom Fleck: Die Fans der englischen Nationalmannschaft waren nach dem EM-Spiel in Gelsenkirchen gegen Serbien am Sonntag mächtig sauer. In den sozialen Netzwerken berichteten Journalisten und Fans von einem überlasteten Verkehrssystem, weit nach dem Abpfiff waren Bahnsteige überfüllt, wie Videos zeigen. Nun hat sich auch das Team der Free Lions Fans‘ Embassy - sie gehören zur Football Supporters‘ Association (FSA), dem englischen Fanverband – mit einer Erklärung zu Wort gemeldet. Die Organisation macht den Behörden schwere Vorwürfe und kritisiert deren „Selbstzufriedenheit“.
„Wir sind bestürzt darüber, was die Fans beim gestrigen Spiel in Gelsenkirchen durchmachen mussten“, leiten sie die Erklärung, veröffentlicht am Montag, ein. Zu sehen, dass die Fans drei Stunden nach Abpfiff des Spiels aufgrund von Transport-Problemen am Gelsenkirchener Hauptbahnhof gestrandet seien, sei „einfach lächerlich“ („quite simply ridiculous“).
Auch Transport von der Trabrennbahn zum Stadion sei chaotisch gewesen
Die Free Lions stellen klar, dass sie bereits vor dem Beginn des Turniers der UEFA und auch allen zuständigen Behörden deutlich aufgezeigt hätten, dass viele, viele tausend englische Fans („many, many thousands of England fans“) aus den umliegenden Städten nach Gelsenkirchen reisen würden und dass der Transport zurück von der Arena zum Hauptbahnhof oberste Priorität haben müsse. „We were therefore extremely disappointed to see that the reality did not match up to the promises made“ heißt es – „Wir waren extrem enttäuscht zu sehen, dass die Realität nicht mit den gemachten Versprechungen zusammenpasste.“
Der Transport von der Trabrennbahn zum Stadion sei chaotisch und die Kapazität nicht ausreichend gewesen, da nach Angaben der Free Lions die Straßenbahnen bereits voll mit Fans aus Essen waren. Obwohl die Besucherzahl auf der Trabrennbahn deutlich unter den erwarteten Zahlen lag, schien die Kapazität der verfügbaren Verkehrsmittel nicht auszureichen. Die Organisation sei ungeschickt und schlecht gewesen.
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„Beim Transport vom Stadtzentrum zum Stadion traten sehr ähnliche Probleme auf: zu geringe Kapazität, schlechtes Warteschlangenmanagement und schlechte Kommunikation sowie erhebliche Verzögerungen bei den Dienstleistungen. Auch im und um das Stadion herum waren die logistischen Vorkehrungen problematisch“, schreiben die Free Lions.
Gar „entsetzt“ sei man gewesen, dass trotz Ankündigungen die Straßenbahnen nicht an der Haltestelle Willy-Brandt-Allee hielten. Die wird bei Fußball-Spielen und anderen Großveranstaltungen in ihrer Mobilität eingeschränkten Menschen empfohlen, wenn sie die Arena besuchen wollen. Die Haltestelle „Veltins Arena“ ist wegen einer steilen Treppe nicht barrierefrei.
Stattdessen seien die Fans direkt zum Halt „Veltins Arena“ gebracht und aufgefordert worden, die Bahnsteige zu wechseln und zum Halt „Willy-Brandt-Allee“ zurückzukehren. Das zeige eine „völlige Missachtung“ („complete disregard“) der Bedürfnisse derer, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind.
Es sei „bemerkenswert“, dass die vielen englischen Fans trotz des „fahrlässigen Besucher-Managements“ überwiegend ruhig geblieben sind.
Die Free Lions verweisen auf die reale Aussicht, dass England für das Achtelfinalspiel am 30. Juni nach Gelsenkirchen zurückkehren könnte. In diesem Zusammenhang sei klar, dass „eine dringende und gründliche Neubewertung der Pläne nötig ist.“ Die „anfängliche defensive Reaktion“ der Behörden vor Ort hinterlasse den Eindruck einer „Selbstzufriedenheit“ („complancy“) und Realitätsverlust („out of sync with what was required“). Dabei hätten sie im Vorfeld des Turniers viele positive Begegnungen mit Gelsenkirchener Verantwortungsträgern gehabt, und sie seien „mehr als gewillt“, diesen Dialog fortzusetzen.
Einen Tag nach dem Spiel hatten Vertreter der Stadt, der Polizei und des Euro 2024-Teams eine positive Bilanz gezogen: „Wir sind mit dem Verlauf des gestrigen Tages zufrieden“, sagte Luidger Wolterhoff, der Leiter des Host City Operation Centers (HCOC). Die Abreise sei – mit „vereinzelten Ausnahmen“ – wie „geplant“ verlaufen, heißt es in einer gemeinsamen Pressemitteilung.
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Auf Nachfrage der Redaktion sagt Luidger Wolterhoff am Mittwoch: „Die sehr herbe Kritik kann ich nicht nachvollziehen“, das Verkehrskonzept habe getragen. Wolterhoff schränkt aber ein: „Dass es immer etwas zu verbessern gibt, ist gar keine Frage.“ Gleichwohl „haben wir keine katastrophale Situation gehabt“, der Bahnhof sei zu keinem Zeitpunkt überfüllt gewesen, es habe keine Gefahr bestanden. Es werde trotzdem ein paar Dinge geben, die „wir nachbessern“, etwa durch den zusätzlichen Einsatz von Bussen. Subjektiv könne er jeden verstehen, der sich über die lange Wartezeit geärgert habe. Und Wolterhoff verspricht: „Am Donnerstag wird es besser laufen (Anm. d. Red.: beim zweiten Vorrundenspiel Spanien gegen Italien).“
„Eine Generalkritik an Gelsenkirchen, die Maß und Mitte verloren hat“
Und auch Ralf Thieme, Vorstand der für die Bahnhöfe zuständigen Bahn-Tochter InfraGO, macht im Interview mit der FUNKE Mediengruppe deutlich, dass er wenig Verständnis für die harte Kritik der Engländer hat. „Wir nehmen Kritik grundsätzlich immer an. Aber: Die Nachrichten über den Ärger von Fans in Gelsenkirchen waren in Teilen wirklich überzogen. Da ist mitunter eine Generalkritik an der Stadt und ihren Bewohnern artikuliert worden, die Maß und Mitte verloren hat. Man kann darüber streiten, wie oft Züge bei einem solchen Event fahren müssen – in Gelsenkirchen sind sie nach dem Spiel alle paar Minuten abgefahren. Wenn aber 50.000 Leute aus dem Stadion strömen, bekommen naturgemäß nicht alle die erste Bahn. Das ist in Gelsenkirchen wie in allen anderen Städten weltweit so.“