NRW. Viele Eltern schenken zu Weihnachten das erste Handy. Wann ist ein Smartphone sinnvoll? Wie können Eltern ihre Kinder vor Gefahren schützen?
„Meine Kinder dürfen den Scheiß nicht nutzen!“ Es sind harte Worte, die Chamath Palihapitiya über das soziale Netzwerk Facebook findet, seinen ehemaligen Arbeitgeber. Von 2007 bis 2011 war er als Manager verantwortlich für das Nutzerwachstum. Heute sagt er: „Ich fühle unglaubliche Schuld für meine Arbeit für Facebook.“ Das Netzwerk zerstöre den sozialen Zusammenhalt.
Kinder und Jugendliche sind sich den Gefahren im Netz oft nicht bewusst. Umso erschreckender sind die Zahlen, die der Digital-Verband Bitkom veröffentlicht hat: Die meisten Kinder haben mit zehn Jahren ein eigenes Handy. Mit zwölf sind fast alle online. Von den Sechs- bis Siebenjährigen nutzen 40 Prozent zumindest ab und zu das Internet.
„Wir hören von Lehrkräften, dass viele Kinder bereits in der Grundschule ein Smartphone haben“, bestätigt Derya Lehmeier, Referentin bei der Landesanstalt für Medien NRW für die EU-Initiative klicksafe. „Die meisten Kinder bekommen ein Handy, wenn sie lange genug nerven oder alle anderen ein Handy haben“, ergänzt Michael May, Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche und Vorsitzender des Kinderschutzbundes in Oberhausen.
Ab welchem Alter ist ein Smartphone sinnvoll?
„Wenn Kinder in der Lage sind, mit Verlockungen umzugehen“, sagt Michael May. Das Handy habe ein hohes Suchtpotenzial. Kinder wüssten nicht immer, was gut für sie ist. Wenn sie verantwortungsbewusst mit dem Smartphone umgehen und einen Kompromiss zwischen Wünschen und Regeln finden könnten, seien sie bereit für die digitale Welt.
„Ist ein Handy nicht unbedingt notwendig, sollten Eltern mindestens bis zur weiterführenden Schule warten“, rät Derya Lehmeier – oder ein Gerät ohne Internetzugang wählen. Eltern sollten sich vor der Anschaffung fragen: Wie verhält sich mein Kind im Umgang mit anderen, etwa in Gruppenchats? Geht das Kind verantwortungsbewusst mit Fotos um? Hat es die Kosten für ein Smartphone im Blick?
Wichtig sei außerdem, dass Kinder einen abwechslungsreichen Alltag haben. Sport, Musikschule, Freunde treffen – ein „ausreichend farbiges Leben“, ist Michael May überzeugt, verhindere, dass sie nur vor dem Smartphone hängen.
Was ist im Notfall?
„Wenn das Kind in den falschen Bus eingestiegen ist, dann sollte es lernen, zur anderen Straßenseite zu gehen und den Bus zurück zu nehmen“, nennt Michael May ein Beispiel. Eltern sollten ihre Kinder zu eigenständigen und selbstbewussten Lebewesen erziehen, sie „fit machen“ fürs Leben. Medienkompetenz gehöre dazu: „Wir lassen unsere Kinder nur in Ritterrüstung Inliner fahren. Aber der virtuellen Welt sind sie schutzlos ausgeliefert.“
Welche Gefahren lauern im Netz?
Gewaltverherrlichende Bilder, Rechtsextremismus, pornografisches Material und fremde Erwachsene, die gezielt den Kontakt zu Kindern suchen: „Es lauern einige Gefahren“, sagt Derya Lehmeier von der Landesmedienanstalt. Kinder könnten derartige Bilder, Videos, und Kommentare noch nicht einordnen oder verantwortungsvoll damit umgehen. Insbesondere in den sozialen Netzwerken seien die Inhalte kaum filterbar. Eine gestörte Selbstwahrnehmung, digitale Abhängigkeit oder die unreflektierte Weiterverbreitung von Falschnachrichten könnten die Folgen sein.
„Gleichzeitig haben Kinder ein Recht auf digitale Teilhabe“, sagt Lehmeier. Eltern sollten ihre Kinder begleiten und sich für die Apps, Spiele und Internetseiten interessieren, die ihre Kinder nutzen. „Vertrauen und Kommunikation sind die Basis“, so die Referentin. „Kinder sollten wissen, dass sie zu ihren Eltern kommen können, wenn ihnen etwas Angst macht oder schief gegangen ist.“
Welche Regeln sollten Eltern und Kinder für die Handynutzung vereinbaren?
Eltern und Kinder können in einem Mediennutzungsvertrag Regeln für die Handynutzung vereinbaren, etwa, dass das Gerät im Unterricht und während der Mahl- und Schlafenszeiten ausbleibt, empfiehlt Derya Lehmeier von der Landesmedienanstalt. Handyfreie Zeiten seien wichtig, damit sich Jugendliche aus dem „Always-on-Modus“, der ständigen Erreichbarkeit, zurückziehen könnten. Die Initiativen klicksafe und Internet-ABC haben unter www.mediennutzungsvertrag.de ein Online-Tool zur Erstellung eines Mediennutzungsvertrags entwickelt. „Darüber hinaus gibt es technische Möglichkeiten, die Handynutzung zu beschränken“, sagt Lehmeier. Eltern könnten Webseiten sperren, den App-Download mit einem Passwort schützen oder Bildschirmzeiten festlegen. Individuellen Rat sowie Tipps und Erklärungen gibt es unter www.fragzebra.de.
Sieben- bis Zehnjährige sollten nicht mehr als eine Stunde am Tag vor dem Smartphone oder Fernseher verbringen. Für Elf- und Zwölfjährige sei eine Bildschirmzeit von 90 Minuten angemessen. Für ältere Kinder könne ein Wochenpensum festgelegt werden, so Lehmeier. „Sie lernen so, sich die Zeit verantwortungsbewusst einzuteilen.“
Wichtig sei, dass Eltern mit gutem Beispiel vorangehen und das Handy weglegen, wenn sie mit ihren Kindern sprechen, sagt Psychotherapeut Michael May. „Leider sieht man auf dem Spielplatz häufig Mütter und Väter, für die das Kind nur Nebensache ist.“
Sind Verbote sinnvoll?
„Kinder, die von Geburt an erleben, dass ihre Eltern sie beschützen wollen, verstehen Einschränkungen nicht als Kränkung sondern nehmen sie als Schutz an“, sagt Psychotherapeut Michael May. Sie könnten auch besser entscheiden, was gut für sie ist – und was nicht.
Um das Vertrauen ihrer Kinder nicht aufs Spiel zu setzen, sollten Eltern das Handy keinesfalls heimlich kontrollieren, rät Derya Lehmeier. Auch mit Handyverboten sollten Eltern sparsam umgehen. So sei das Smartphone für Jugendliche bei Kontaktbeschränkungen in der Pandemie die einzige Möglichkeit, mit Freundinnen und Freunden in Kontakt zu bleiben.
Mediensucht während Corona stark gestiegen
■ In der Corona-Pandemie ist die Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen stark gestiegen. Das ergab eine Studie der Krankenkasse DAK. Mehr als 4 Prozent der 10- bis 17-Jährigen zeigen demnach ein pathologisches, also krankhaftes, Nutzungsverhalten.
■ Im Bereich Computerspiele hat sich die Zahl der Betroffenen mit Suchtverhalten von rund 144 000 im Jahr 2019 auf 219 000 erhöht, bei der Nutzung von Social-Media-Plattformen wie Tiktok, Instagram oder WhatsApp von 171 000 auf 246 000. Das entspricht einem Anstieg von rund 52 bzw. 44 Prozent.
■ Warnsignale seien das Vermeiden realer Kontakte, längere Nutzungszeiten auch während der Nacht, launisches Verhalten oder die Vernachlässigung von Pflichten.