Ruhrgebiet. Am Montag müssen die Lehrer wieder in die Schule. Ein ungutes Gefühl, viele hätten sich eine frühere Impfung gewünscht. Die gibt es wohl nicht.
Noch drei Tage, dann ist der Lehrer nicht mehr nur ein wackeliges Computerbild vom Küchentisch, dann steht er wieder leibhaftig vor der Klasse. Angeschaut, angeatmet, angesprochen von den Schülern, mit Maske zwar, aber ohne Impfschutz. Denn den, obschon gefordert, wird es wohl vorerst nicht geben.
Noch ist kein Regelbetrieb, aber ihn sich vorzustellen, ist nicht nur für Mathelehrer eine einfache Rechnung: 6 Stunden mal 28 Kinder mal 3 Bezugspersonen, das macht schon 504 Kontakte, denen sich die Lehrkraft gegenübersieht, am Tag. So hat eine Realschullehrerin (59) aus Dortmund ihr Risiko multipliziert, das private Umfeld ihrer Schüler dabei schon klein- und die Begegnungen auf den engen Fluren nicht mitgerechnet. „Das ist“, sagt eine Gymnasial-Kollegin aus Essen, „als ginge ich jede Woche auf ein Popkonzert. Und das mache ich ja auch nicht.“
Stiko-Chef sieht keinen Grund, Lehrer vorzuziehen
Seit bekannt ist, dass NRW am Montag seine Schulen teilweise wieder öffnet, ist deshalb die Forderung laut geworden, die Lehrer bevorzugt zu impfen. Bisher stecken die, wenn sie nicht vorerkrankt sind, in Impfgruppe 3, gefühlt knapp vor Sankt-Nimmerleins-Tag und jedenfalls nach den nächsten Ferien. Und das wird womöglich so bleiben: Der Chef der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, erklärte in dieser Woche, er sehe keinen Grund, Lehrer bevorzugt zu impfen. Man habe die Empfehlung auf internationale Daten gestützt. „Daraus ergibt sich keine Notwendigkeit, die Lehrer jetzt abweichend von der Empfehlung vorzuziehen.“
Zwar dürften „die politischen Entscheidungsträger“ das gern anders entscheiden, erklärte Mertens, sie müssten das dann aber auch begründen. Bislang allerdings hat sich die Politik an die Empfehlungen der Stiko gehalten. „Aus gutem Grund“, sagt NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, der das auch weiterhin zu tun gedenkt, statt Fragen der Priorisierung politisch zu entscheiden: NRW folge den Vorgaben der Coronavirus-Impfverordnung. „Eine Einstufung von Beschäftigten in Schulen und Kitas in der höchsten Priorität ist nach dieser aktuell nicht zulässig.“
Gewerkschaft: „Keine Möglichkeiten, Abstände einzuhalten“
Persönlich aber, gestand der Minister, habe er durchaus „Sympathie für die Forderung, Beschäftigten in den Schulen möglichst zeitnah ein Impfangebot machen zu können“. Auch Kanzlerin und Ministerpräsidenten hatten das Gesundheitsministerium nach ihrer jüngsten Beratung gebeten, eine höhere Priorisierung zumindest von Grundschullehrern zu prüfen. Denn Gründe dafür, wie vom Stiko-Chef angemerkt, gäbe es wohl.
Lehrkräfte, sagt etwa die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Maike Finnern, hätten „kaum Möglichkeiten, Abstände einzuhalten und sich in der Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen zu schützen“. Impfungen gäben Sicherheit. Wer Schulen öffnen wolle, sagt die Schulleitungsvereinigung NRW, „muss auch seiner Fürsorgepflicht gegenüber den Beschäftigten in diesen Einrichtungen nachkommen“! Zudem würden geimpfte Lehrer nicht mehr ausfallen, weil sie in Quarantäne müssten. Wer Lehrer fragt, hört genau das: „Wenn man möchte, dass Schulen offen sind, muss man die Lehrkräfte schützen.“
Auch kirchliche Verbände wie Caritas oder Kolpingwerk unterstützen das Ansinnen. Es sei „unverantwortlich“, die Menschen, die sich um die Bildung und Betreuung der Kinder kümmern, „quasi schutzlos ‚in die Arena‘ zu lassen“, heißt es vom Kolpingwerk im Bistum Münster. Mittlerweile sei erwiesen, dass Kinder am Infektionsgeschehen beteiligt sind. „Die Schulen“, sagt die Düsseldorfer Gesamtschullehrerin Ulrike Fliedner, „sind sehr wohl Infektionstreiber“, das sehe man bei jedem anderen Infekt. Die 60-Jährige hat schon im Sommer erlebt, wie Kollegen erkrankten, auch jüngere.
Lehrerin: „Es bleibt ein mulmiges Gefühl“
Die Politik in ihrem Werben bemüht denn auch die „hohe gesellschaftliche Bedeutung von Bildung und Betreuung“, Bundesbildungsministerin Anja Karliczek ist überzeugt, eine frühere Impfung von Lehrern und Erziehern „würde bei der Normalisierung des Schul- und Kitabetriebs helfen“. Auch die FDP ist dafür und erfand eine Steigerung der Systemrelevanz: Es gehe um „ultra-systemrelevante Berufe“.
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In den Ebenen der schulischen Praxis klingt das so: „Jeder Kollege hat ein ungutes Gefühl“, sagt Ulrike Fliedner. Niemand wolle sich anstecken und Corona in die Familie tragen. Zwar ist es auch nicht so, als würde sich jede Lehrkraft dem Impfarzt willig in die Arme stürzen, auch sie haben ihre Vorbehalte, aber die Sorge ist größer: „Es bleibt ein mulmiges Gefühl wegen der neuen Mutanten“, sagt die Dortmunder Realschullehrerin. Eine vorgezogene Impfung in Kombination mit Schnelltests würden auch den Schülern „Halt und Hoffnung“ vermitteln. Denn deren Ängste, sagt Lehrerin Fliedner, würden ebenso wenig berücksichtigt: Auch die Kinder, das sah sie an Reaktionen auf Erkrankungen von Klassenlehrern, „wollen das Virus nicht mit zu den Großeltern nehmen“.
In der Gruppe 2 („Hohe Priorität“) warten schon Millionen auf die Impfung
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Aber selbst wenn die Politik noch einlenkt: Ein Vorziehen der Lehrer in Impfgruppe 2, warnte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bereits, könne „sicherlich erst im Frühsommer Wirkung zeigen“. Und überhaupt, wo soll man anfangen: Hausärzte wollen früher, Verkäuferinnen wollen früher, Reinigungskräfte in Kliniken auch. In der Gruppe 2 – „Hohe Priorität“ und noch nicht dran – sind mit Über-70-Jährigen, schwer körperlich oder psychisch Kranken und ihren Kontaktpersonen, Polizisten, Soldaten, medizinischem Personal... ohnehin schon Millionen.