Essen. . Sachsens Landeshauptstadt Dresden wird auch gern Elb-Florenz genannt. Zwinger, Residenzschloss und Frauenkirche bestimmen maßgeblich das Stadtbild der Altstadt. Die Neustadt ist trotz ihres Namens älter - und authentischer.

Es gibt Geschichten, die füllen Romane. Andere haben auf einem Bierdeckel genug Platz. Aber schon die Fläche, die August der Starke für Erzählungen zu schätzen wusste, war minimalistisch: Der Kurfürst von Sachsen (1670-1733) sammelte Kirschkerne, auf denen Ereignisse bildlich dargestellt sind. Auf einem besonders komplexen Exemplar sind neben vier Porträts auch drei Szenen aus dem Alten Testament festgehalten.

Eine gewisse Extravaganz spricht auch aus anderen Exponaten, die im Grünen Gewölbe in Dresden zu sehen sind. Der kapriziöse Adelige aus dem Geschlecht der Wettiner gönnte sich eine Elfenbeinfregatte, einen Straußeneipokal und ein 48-teiliges Besteck, dessen Griffe aus rot gefärbten Korallen bestehen. Das mutet unpraktisch an, ist aber sehr ansehnlich. Kurzum: August der Starke hat ein Kuriositätenkabinett zusammengetragen, dessen Besichtigung höchst unterhaltsam ist.

Auch sonst haben die Wettiner ihren Stempel auf Dresden gedrückt: Zwinger, Residenzschloss oder Japanisches Palais bestimmen bis heute maßgeblich das Stadtbild. Es sind jene Prunkbauten, denen die sächsische Landeshauptstadt den Kosenamen Elb-Florenz verdankt.

Das Elb-Florenz – zu wenig authentisch, zu viel Kulisse

Doch während die Dresdner die Relikte der Barockzeit als selbstverständlich und gegeben hinnehmen, ruft die Architektur der jüngeren Vergangenheit bei den Besuchern nicht nur Bewunderung, sondern bisweilen auch Verwunderung hervor: „Wir haben ganz schön was geleistet“, sagt Sylvia Johne, während sie durch die Altstadt schlendert. Die Stadtführerin erzählt, dass sich hier noch vor rund 20 Jahren eine urbane Brache mit den Resten einer Trümmerlandschaft ausgebreitet hat. Mittendrin in der Tristesse: die Ruine der Frauenkirche. Heute ist die Stadt rund um den Neumarkt fast vollständig wiederaufgebaut. Pastellfarbene Bauten im Stile des 19. Jahrhunderts, gediegene Luxushotels oder das Grand Café Coselpalais flankieren die rekonstruierte Frauenkirche.

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So richtig harmonisch allerdings will sich das Ensemble nicht ins Gesamtbild einfügen. Es orientiert sich am historischen Vorbild aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Einige Einheimische sprechen hinter vorgehaltener Hand von einer Art „Disneyland“, welches vortäusche, dass sich die Geschichte nicht so abgespielt hat, wie sie tatsächlich war. Die neue Altstadt sei zu viel Kulisse und zu wenig authentisch. Einige Brüche aber bleiben in unmittelbarer Nähe sichtbar: Der Kulturpalast etwa ist ein Aushängeschild sozialistischer Schönheitsideale – und als solches ein zeitgeschichtliches Monument, das die nahen Neubauten zu fragen scheint: „Wer seid ihr denn?“

Gegenwart hat ihre eigene Geschichten

Auf der anderen Seite der Elbe ist man froh, dass Dresden sich seine Vielfalt bewahrt. Hier in der Neustadt, die ihren Namen einer Stadterweiterung im 18. Jahrhundert verdankt, inzwischen aber älter als die Altstadt ist, möchte man sich nicht darauf beschränken, die barocke Grandezza zu feiern. Schließlich gibt es eine Gegenwart – und die hat eigene Geschichten.

Anke Siefke etwa arbeitet in einem Gebäude, auf dem mit großen Lettern „Kulturschutzgebiet“ geschrieben steht. Hier ist das Projekttheater beheimatet. „Die Bühne“, sagt sie, „hatte ihren Ursprung im Januar 1990“. Unmittelbar nach der Wende haben ein paar junge Leute das Haus in der Louisenstraße besetzt. Die Immobilie war verfallen und die Kreativen nutzten die neuen politischen Freiräume, um ihre Träume zu realisieren. Das Zeitalter des Theaters nach der Diktatur konnte beginnen. „Mithilfe eines Mäzens konnten wir das Haus kaufen“, sagt Siefke. Nach einigen Krisen ist die unkommerzielle Bühne heute aus der freien Szene nicht mehr wegzudenken. „Es ist ein Ort, an dem die Leute in direkten Kontakt zu Kunst und Kultur kommen.“

Das junge Dresden kann sich hier in der Äußeren Neustadt immer noch ungehindert entfalten. Die Geschäfte bieten Mode fernab des Mainstreams. Jaqueline Peevski etwa kann sich der Bewunderung ihres Publikums sicher sein: Die gelernte Bühnenbildnerin sitzt Tag für Tag im Schaufenster ihres „Atelier Japée“, wo sie vor den Augen der Passanten ausgefallene Hut-Kreationen herstellt. Abends dann werden die Straßen rund um die Scheune zum Epizentrum des Geschehens.

Zwischen skandinavischem Metal und Laptop-Sounds

Zu DDR-Zeiten war es ein Jugendzentrum, heute stehen dort Laptop-Musiker, Underground-Literaten und skandinavische Metal-Bands auf der Bühne. Im Ostpol an der Königsbrücker Straße tanzt die Jugend derweil ausgelassen zu Balkan-Discosounds. Aus dem Zapfhahn kommt „Elbhang Rot“, ein schmackhaftes Ale, das in der Nähe gebraut wird.

Auch der sächsische Wein kann sich sehen lassen. Nur ein paar Kilometer abseits des Stadtzentrums gedeihen bei Neigungen von 50 bis 60 Grad am nördlichen Elbufer die Rebstöcke. Von Pirna bis hinter Meißen erreichen die Produzenten eine erstaunliche Qualität. Laut Heiderose Salz vom sächsischen Staatsweingut Schloss Wackerbarth ist dies vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen: „Niedrige Erträge und moderne Kellertechniken.“ Bei den Führungen durch das schicke Anwesen im Vorort Radebeul zeigt sie, wie zeitgenössischer Weinbau im nördlichsten deutschen Anbaugebiet aussieht.

Auch ein Städtchen nur wenige Kilometer flussabwärts beansprucht für sich, in Bacchus’ Geiste zu stehen. Die Aufmerksamkeit jedoch zieht auch in Meißen ein Besitztum der Wettiner auf sich: die Albrechtsburg. Der trutzige Bau aus dem Jahr 1485 ist der erste Schlossbau Deutschlands. Und auch hier hat August der Starke durch seine Obsession für Extravaganzen Spuren hinterlassen.

Der Kurfürst nämlich ließ 1701 den Alchimisten Friedrich Böttger inhaftieren. Sieben Jahre musste dieser an der Rezeptur für das erste weiße Porzellan tüfteln. Als ihm dies schließlich gelungen war, ließ August in der Albrechtsburg jene Manufaktur errichten, auf welcher der Ruhm Meißens bis heute fußt.

Eine Geschichte, die so umfangreich ist, dass sie garantiert auf keinem Kirschkern der Welt Platz hat.