Freudenberg. Die Menschen in der Kleinstadt ein Jahr nach dem Verbrechen an Luise (12): „Wir meiden diese Plätze. Die Touristen wollen sie sehen.“
- Am 11. März 2024 jährt sich das Verbrechen: Die zwölfjährige Luise aus Freudenberg wird von zwei Mitschülerinnen getötet.
- Katastrophen-Touristen kamen, nicht jeder hielt Ab- und Anstand.
- Die Menschen in der Stadt bewegt das Verbrechen ein Jahr nach der Tat immer noch. Über die Stimmung in der Stadt.
Neulich, da war es wieder so weit, da kamen die Erinnerungen an die schockierende Tat wieder hoch, an die Tötung der zwölfjährigen Luise aus Freudenberg durch zwei nahezu gleichaltrige Mitschülerinnen. Kinder töten ein Kind. Der verstörende Fall wirkt immer noch nach.
Vor gut einer Woche wurden in Freudenberg zwei Schüler vermisst, beide 14, also nur etwas älter als Luise. Die Sache war zwar glücklicherweise schnell geklärt und wohl nichts Dramatisches, wie die Polizei auf Anfrage erklärt. Trotzdem habe er zunächst gedacht: Oh Gott, wieder zwei Kinder weg. „Da merkt man“, erzählt der Freudenberger Christian Janusch, „wie man immer noch durch bestimmte Ereignisse getriggert wird, wie sensibel das Thema immer noch ist.“
Zwölf Monate liegt der Fall Luise inzwischen zurück. Am 11./12. März jährt sich das furchtbare Ereignis erstmals. Das Verbrechen hat tödliches Leid über das Opfer und seine Familie gebracht hat, vor allem über sie. Hinzu kommen die Familien der beiden minderjährigen und strafunmündigen Täterinnen, die sich unter anderem mit einer Zivilklage auseinandersetzen müssen (Lesen Sie hier den Bericht dazu).
Aber der Fall beschäftigt auch die Stadt, bis heute. Am treffendsten hat das Freudenbergs evangelischer Gemeindepfarrer Thomas Ijewski beschrieben, als er am Dienstag auf einer Pressekonferenz unter anderem mit Bürgermeisterin Nicole Reschke Stellung anlässlich des bevorstehenden Jahrestags des Verbrechens nahm.
„Wunden können heilen, aber Narben werden bleiben“, sagte Ijewski da über die Trauerbewältigung.
Freudenberg, ein Jahr danach.
Belagerungsähnliche Zustände
Die Wunde soll nicht wieder aufreißen, viele im Ort wollen heute ihre Ruhe haben, doch so einfach ist das nicht. Zu schrecklich sind die Umstände dieses Falls, der sogar erfahrene Ermittler fassungslos machte. Die Wunde ist tief.
Der Fall Luise rückte Freudenberg ins kollektive Bewusstsein. Das Verbrechen geschah in einem Waldstück des Stadtteils Hohenhain im Grenzgebiet zu Rheinland-Pfalz, an einem nass-kalten, dunklen Wochenende Mitte März 2023, an dem auf den Wiesen und in den Wäldern noch Schneereste lagen. Hier passierte sonst wenig. Dann waren Freudenberg und Hohenhain plötzlich wochenlang Thema, nationale und internationale Medienvertreter rückten an, belagerten die Stadt und ihre knapp 18.000 Einwohner. Sogar Grundschulkinder seien von Reportern angesprochen worden, sagt Freudenbergs Bürgermeisterin Nicole Reschke.
Auch Katastrophen-Touristen kamen, nicht jeder hielt Ab- und Anstand. Die Rede ist von Belästigungen, auch gegenüber der Familie des Opfers, von Drohungen gegen die Täterinnen und ihre Familien, von Social-Media-Hetze.
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Nicht wenige in Freudenberg möchten nicht mehr mit Journalisten über Luise sprechen. Eine Person, die in dem 400-Einwohner-Dorf Hohenhain lebt und eine der Täterfamilien kennt, äußert sich schließlich. Die Person, die anonym bleiben möchte, sagt: „Nach der Tat kamen unheimlich viele Besucher vorbei, aus Berlin, aus Stuttgart, aus Gießen. Wir haben hier alle möglichen Auto-Kennzeichen gesehen. Alle sind hierher gepilgert. Ich habe eine Frau gesehen, die ist mit Metalldetektor rumgelaufen, die hat wahrscheinlich die Tatwaffe gesucht. Ich habe mir gedacht: um Gottes willen.“
Drei, vier Monate habe der Ausnahmezustand gedauert. Immer wieder Fragen, immer wieder Touristen, immer wieder die Erinnerung an das Geschehene. Vergessen? Unmöglich.
Rund um den Tatort im Waldgebiet am Rande von Hohenhain, das die Einheimischen „Kleintirol“ nennen, wird an zwei Stellen des Opfers gedacht. Die Person aus Hohenhain geht dort nicht mehr entlang. Sie möchte nicht mehr erinnert werden. „Wir“, sagt sie, „meiden diese Plätze. Die Touristen aber wollen sie sehen“. Doch nicht nur Auswärtige sind neugierig, auch Bekannte im zwei Kilometer entfernten Freudenberg würden schon mal fragen, ob es denn was Neues in dem Fall gebe. Meistens verneine sie. „Es wühlt einen auf, wenn man über den Fall redet“, sagt die Person.
Trigger-Momente bringen Erinnerungen zurück
Nun ruft der erste Jahrestag des Verbrechens vieles wieder ins Gedächtnis, aber nicht nur der. Die Erinnerungen an die Tötung von Luise bleiben wie ein Grundrauschen. Auch bei Christian Janusch. Zum Beispiel, als Ende Februar – wie erwähnt – die zwei Schüler für einige Stunden von zu Hause abgehauen waren.
Janusch ist Vorsitzender des Fußballvereins Fortuna Freudenberg. Früher arbeitete er als Journalist, auch für die Westfalenpost, heute ist er Geschäftsstellenleiter des Kreissportbundes Siegen-Wittgenstein, außerdem betreibt er in seiner Freizeit einen Blog über seine Heimatstadt. Im Spätsommer des vergangenen Jahres, sechs Monate nach der Tat, erzählte er in einem ersten Gespräch zum Fall Luise, dass über die Tötung der Zwölfjährigen durch zwei Mitschülerinnen in der Stadt nicht groß gesprochen werde, „eher im privaten Raum, unter der Oberfläche“. Doch immer mal wieder sei die Angelegenheit hochgekommen. Etwa in den Osterferien, wenige Wochen nach der Tat.
Janusch berichtete, dass die Polizei damals mit Blaulicht und Sirenen am Sportplatz vorbeigekommen sei. „Das“, sagte er, „hat die Kinder sofort getriggert“. Oder, ein anderes Beispiel aus seinem Sportverein: „Wir haben in einer Jugendmannschaft Klassenkameraden des Opfers und der Täterinnen, die sind auch mal weinend vom Platz gelaufen.“ Nach den Osterferien habe sich das dann gelegt. Die Zeit heilt nicht alle Wunden, aber mit der Zeit wird es meist besser, erträglicher. Zumindest für die, die nicht direkt betroffen sind, wobei in der Kleinstadt Freudenberg jeder irgendeinen kennt, der irgendeinen kennt. Die Wege sind kurz. Über die allgemeine Trauerbewältigung sagte Janusch im Sommer: „Jeder versucht, seinen Frieden mit dem Fall zu finden. Aber jeder für sich.“
Geburtstagsgrüße auf dem Friedhof
Das erste Gespräch mit dem Fortuna-Vorsitzenden fand Ende August 2023 statt, zwei Tage nach Luises Geburtstag. Sie hatte Blumen, Glückwünsche und Geschenke bekommen – auf dem Friedhof.
„Alles Gute zum Geburtstag“ stand auf einem handgeschriebenen Zettel unter einem roten Grablicht.
„Happy Birthday, Luise, I love you“, auf einer mint-grünen Flasche neben ihrer letzten Ruhestätte.
Dazu eine Packung mit drei Batterien, darunter ein (anonymer) Zettel mit der Aufschrift:
„Aus Respekt vor Luise und ihrer Familie wird gebeten, von Dekoartikeln und Blumenspenden Abstand zu nehmen. Danke für Ihr Verständnis.“
Luise wäre Ende August 13 geworden. Sie liegt auf dem Friedhof. Um sie herum Gräber von Menschen, die nach einem sehr viel längeren Leben gestorben sind.
Kinder töten ein Kind. Es bleibt eine grausame Erkenntnis.
Pastor appelliert an Grab-Touristen
Ende Februar, weitere sechs Monate später und kurz vor Luises erstem Todestag, scheint wie im August die Sonne, es ist ein frühlingshafter Tag zum Ende des Winters. Die Bitte, am Grab auf Dekoartikel und Blumenspenden zu verzichten, wird offenbar respektiert. Rund um den Tatort im Wald von Hohenhain finden sich hingegen viele Devotionalien, auch frische Blumen.
Mit Blick auf den nahenden Jahrestag des Verbrechens appelliert Pastor Ijewski am Dienstag im Namen der Opferfamilie vorsorglich, Luises letzte Ruhestätte auf dem Friedhof „als privaten Bereich der Trauer“ zu respektieren, sprich: auf Abstand zu bleiben, der Familie Raum und Platz für ihre Trauer zu geben.
„Ich sage es mit meinen Worten: Blumen, Karten, Stofftiere sind alle ganz lieb gemeint, aber helfen der Familie jetzt nicht mehr. Manches, was furchtbar lieb gemeint ist, wird in der schieren Masse für die Betroffenen auch furchtbar“, sagt Ijewski, der Luise einst taufte.
Die Ruhe, die sich die Familie wünscht, scheint im Alltag in der Stadt indes eingekehrt zu sein, zumindest ein bisschen. „Im Moment“, sagt Christian Janusch, „ist der Fall in meiner Wahrnehmung kein großes Thema mehr in der Öffentlichkeit.“
Es sei denn, es kommt wieder zu einem dieser Trigger-Momente. Dann reißt die Wunde wieder auf.