Essen. . Abertausende Pendler müssen seit Mittwochabend Zugausfälle und Verspätungen hinnehmen. Schuld ist eine Entdeckung aus den Anfangsjahren des Bergbaus
Michael Broker will am Donnerstag nur eine sehr überschaubare Reise tun, von Duisburg nach Bochum. Doch dazwischen liegt Essen. Eine Stadt, in der sich Abgründe auftun; ein Bohrer tippt den Boden an, und es öffnet sich ein Riss in die ferne Vergangenheit, als die Menschen gerade begannen, den Boden zu durchwühlen auf der Suche nach Kohle.
Leider haben ihre Urenkel gleich über dieser Stelle Gleise verlegt und daneben einen Hauptbahnhof errichtet. Irre, ein Loch ungefähr von 1840 stoppt die Fahrt von Michael Broker im Jahr 2013. Und mit ihm die von Abertausenden Pendlern.
Züge fallen aus, die Infoschalter sind überfüllt
Kinder schreien: „Es ist so voll. Ich pass ja nicht mehr rein.“ Mütter drängen: „Rein mit dir. Das passt noch.“ Michael Broker ruft seine Frau in einem Dorf bei Darmstadt an: „Du, Schatz, Du glaubst es nicht. Man kommt hier nicht von Duisburg nach Bochum. Ich werde länger brauchen als gestern von Darmstadt hierher.“
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Seine ICE-Fahrkarte nützt dem Geschäftsreisenden heute nichts, der fällt aus. Der Informationsschalter in Duisburg: hoffnungslos verstopft. Aber Broker findet immerhin eine S-Bahn, mit einiger Verspätung fährt sie ab und vor Essen nur im Schritttempo.
Der 16-jährige Tim neben ihm erklärt: „Ich bin Azubi und muss nach Bochum. Wenn ich schon wieder zu spät komme, bekomme ich Ärger mit dem Chef.“ Die Durchsage beruhigt: „Keine Angst, wir haben es gleich geschafft.“ Bei der Einfahrt klatschen die Gäste wie im Ferienflieger.
Der Stollen des Verkehrsgrauens hat folgende Lage geschaffen: Die Fernzüge und zahlreiche Regionalexpresse fahren seit Mittwochabend um Essen herum – und zwar so großzügig, dass die ganze Strecke zwischen Duisburg und Dortmund betroffen ist.
Stattdessen entdecken viele Pendler nun den Charme von Gelsenkirchen und Oberhausen. Wer nach Essen will, ist meist auf die S-Bahnen angewiesen. Bis auf die S 3 (Oberhausen-Essen) und die S 9 (Bottrop-Essen) fahren die zwar noch, aber zwischen Essen-Hauptbahnhof und Bismarckbrücke eben im Unglücksvermeidungstempo.
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Der Bergwerkstollen dürfte bekannt gewesen sein
Als eine der ersten sah Nicole Reinersmann dieses Szenario kommen. Die Diplom-Geotechnikerin beaufsichtigt mit ihrem Kollegen Peter Hogrebe für die Bezirksregierung Arnsberg Bohrungen an der Bert-Brecht-Straße. Dort wird das alte AEG-Haus abgerissen, um Platz zu schaffen für die neue Konzernzentrale der Bahnlogistik-Tochter DB Schenker.
Dass unter dem Bürogebäude aus den Fünfzigern ein Bergwerksstollen verläuft, wussten Bauherr, Bezirksregierung und auch RWE Service GmbH. Diese Tochtergesellschaft des Essener Energiekonzerns kümmert sich um seine Bergbaualtlasten – und dazu gehört die Zeche Victoria Mathias, 1839 gegründet von Mathias Stinnes und vor 150 Jahren die größte im Revier.
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Der bekannte Stollen im Grubenfeld „Hoffnung & Secretarius et Aak“ muss nach 1870 entstanden sein, denn erst danach wurde der Bergbau kartiert. Doch als der Projektentwickler rund um das AEG-Haus bohren lässt, stößt er auf noch ältere Hohlräume: das Flöz Sonnenschein. Das lag so nah unter der Oberfläche, dass hier schon um 1840 rum mit einfachsten Mitteln gebuddelt wurde; doch wo genau, das weiß kein Mensch.
Nicole Reinersmann wird hinzugerufen. Die weiteren Bohrungen zeigen, dass wohl ein weiterer, bisher unbekannter Stollen ausgehend von der Baustelle die Bahntrasse quert. Etwa einen Meter breit und zwei Meter hoch könnte er sein, schätzt Reinersmann, und circa 200 Meter lang. „Aber das sind Vermutungen, bis die Ergebnisse der weiteren Bohrungen vorliegen.“
Am Mittwoch, gegen 17 Uhr, informierte Reinersmann die Bahn von der Entdeckung und setzte damit das Krisenszenario in Gang. Der neue, alte Stollen wird nun verfüllt mit Beton. Seit Donnerstagabend ist klar: Das wird noch länger dauern, wahrscheinlich bis Freitagnachmittag. Gut möglich also, dass das Tempolimit für die Züge bis Freitagabend, oder Samstag gelten wird. Zumal erst nach den Erkundungsbohrungen klar sein wird, wie groß die Hohlräume unter den Gleisen sind, die verfüllt werden müssen. Doch am Donnerstagabend ist noch nicht einmal deren genaue Lage bekannt.