Bochum. . Die Obdachlosenhilfe „Bodo“ führt durch die Stadt, wie sie keiner kennt. Besucht werden Beratungsstellen für Obdachlose, Schlafstätten und andere Einrichtungen für Leute ohne Zuhause. Nicht nur Touristen, sondern auch Einheimische nutzen das fast kostenlose Angebot.
Hierher kommen die Kinder, die schon in den Brunnen gefallen sind: die Verstoßenen und Rausgeschmissenen, die Abgehauenen und Obdachlosen und die Wanderer entlang der großen Gleise. Das „Sprungbrett“ hinterm Bochumer Bahnhof sieht aus wie die aufgehellte Version der Kneipe, die es mal war; aber heutzutage steht Wasser auf der Theke, und in den Schränken für Gläser und Krüge stapeln sich – Brettspiele.
14 Jahre sind die Jüngsten, die hierher finden, Anfang 20 die Älteren, sie können hier essen, trinken und sich kleiden, die Polizei bleibt draußen, und auf der Tafel hinter Nikola Worringen steht: „Di + Do Dr. Deckers Sprechstunde 12 - 13 Uhr“ und „Jeden 2. Dienstag im Monat Herr Schäfer (Rechtsanwalt)“. Es gibt nämlich kein Problem, das hier nicht durch die Tür kommt.
Wärme, Kaffee, Tee und Beratung
„Wir helfen Jugendlichen, die schon durch alle Raster gefallen sind“, sagt Worringen. Im Notfall auch mit einem Schlafplatz. Längstens zehn Nächte. Dann gehen die Wanderer für weitere zehn Nächte nach Dortmund. Oder Essen. Gelsenkirchen. Neben den Gleisen. Aus der Spur.
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„Diese Einrichtung hab ich noch nie wahrgenommen“, sagt eine Frau aus der Besuchergruppe, als sie weitergeht. Zu zwölft sind sie an diesem Vormittag, unterwegs mit einer Stadtführung der Obdachlosenhilfe „Bodo“. Sie sehen: Bochum von unten.
„Wir wollen den Alltag von Obdachlosen zeigen“, sagt Markus N., der Stadtführer. „Ich habe nie richtig Platte gemacht“, erzählt er, aber dass er ein paar harte Jahre hinter sich hat. Mal hier schlafen, mal da. Es steht im übrigen auch in seinem Gesicht. Jetzt geht es etwas besser für N.. Sein Lohn für zweieinhalb Stunden Führen wird sein, dass jeder, der mitläuft, die Obdachlosenzeitung „Bodo“ kauft. Daran verdient er pro Stück 90 Cent.
Niemand hat das Schild je gesehen
Inzwischen verkauft N. die ,Bodo’ vor Beginn der Führung. Denn danach, lehrt die Erfahrung, hat sich so mancher, der mitlief, schneller verflüchtigt, als man eine Zeitung hinhalten kann.
Weiter durch den Einkaufstrubel von Samstagsbochum. „Beratungsstelle für alleinstehende obdachlose Männer“, doch sie ist heute geschlossen. Wäre nun offen, auch hier gäbe es Wärme, Kaffee, Tee und Beratung; man kann sich ein paar Stunden reinsetzen, vor allem aber: hier eine Post- und Meldeadresse einrichten. Die Beratungsstelle liegt zwischen Musikschule und Rathaus, ein großes Schild markiert sie, aber es wiederholt sich der Lerneffekt von eben: Die Geführten schauen einander schulterzuckend an, niemand hat das Schild je gesehen, die Tür oder die Büros.
Man sieht nur, was man kennt. Für Normalverdiener ist die Infrastruktur der Armut unsichtbar. Es sei denn, Markus N. bliebe stehen. Wie bei „Schlaf am Zug“: Fünf Schlafplätze für Jugendliche, man darf sich nicht häuslich einrichten, und nach drei Nächten ist ein Beratungsgespräch Pflicht. In gewollter Umkehrung zu all den Willkommens auf Fußmatten steht auf dieser: „Oh no. Not you again.“
Die Bahnhofsmission ist umgezogen. Sie ist nun nicht mehr in der Halle, sondern in einem Seitenraum, den man kennen muss, um ihn zu finden. Vier, fünf Männer stehen davor, halten eine Kaffeetasse in Händen, essen weißes Brot. Die meisten gehen weg, als die Gruppe auf die Mission zusteuert: Armut schämt sich.
Ein Haarschnitt für drei Euro, wenn man gesund ist
Den Kaffee gibt es gratis, einen, und auch das Brot, denn das spendet der türkische Bahnhofsbäcker. Daria Sengüner, die Chefin der Bahnhofsmission, stellt vor, was sie tun („Wir sind für Reisende zuständig und für Menschen in Notlagen“), aber eigentlich spricht auch das Schwarze Brett neben ihr. Da hängen die Telefonnummern von Diakonie und Jobcenter, die Adressen von Essensausgaben und Schlafplätzen oder dieser Ausdruck: „Im Gisela-Vogel-Institut kann man sich für circa drei Euro die Haare schneiden lassen. Trinkgeld erwünscht!“ Darunter der handschriftliche Zusatz: „Man sollte sauber (gesund) sein.“
Mittags, als alles endet, sagt eine Teilnehmerin: „Ich wusste gar nicht, dass es so vieles gibt.“ Und jetzt, nach so vielen Kilometern, haben sie noch nicht einmal das Wohnheim für Männer gesehen. Oder die Caritas-Beratungsstelle. Oder die Beratungsstelle „Frauen in Not“ ... Den Internationaler Mädchentreff ... den Mittagstisch Wattenscheid ... die Suppenküche ... In Düsseldorf gibt es inzwischen auch solche Führungen. Demnächst folgt Dortmund.