Bochum. . Die Bochumer “Web-Schule“ gibt Nachhilfe aus der Ferne. Schüler, die aus psychischen oder physischen Gründen an einer Regelschule keine Chance hätten, bekommen sie hier. Und das mit großem Erfolg seit zehn Jahren. „Es bestehen immer alle“, sagt die Initiatorin. Auch auf prominente Absolventen kann sie verweisen.
Gemeinsam sitzen sie auf dem Flur und bangen – die Mitschüler, die Lehrer, die Schulleiterin. Wird Bastian die Mündliche packen? Er packt sie mit Bravour: Bastian macht eine Eins. „Das ist eine Sensation“, sagt die Direktorin Sarah Lichtenberger. Denn Bastian, der gerade aus der Prüfung kommt und strahlt, ist einer von ihren „schweren Jungs“. Einer von denen, der mehr Polizeiwachen als Klassenzimmer von innen gesehen hatte, bevor er zur web-Individualschule kam – und dort den Spaß am Lernen wiederfand.
„Die Lehrer sind lockerer drauf“
Drei Jahre lang wurde er hier in Bochum unterrichtet – genauer gesagt: von hier aus. Denn die web-Schule lehrt per Fernunterricht. Mit Video-Chat, Mail und Telefon. Die Schüler sind verstreut in aller Welt. Auch Bastian war nicht zu Hause in Heiligenhaus. Mit 14 kam er weg von den Eltern, in eine Jugendhilfe-Maßnahme, zunächst nach Kirgisien, dann nach Polen. Zu der Zeit hatte er schon lange keinen regelmäßigen Unterricht mehr besucht. „So in der fünften Klasse fing das Schwänzen an, ab der siebten bin ich dann gar nicht mehr hin“, erklärt der heute 17-Jährige. Rumfahren, abhängen. Seine Mutter habe alles versucht, vergeblich: „Ich war wie eine Wand.“
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Eine Wand. Wo ist die Öffnung, wo die Tür? Dem Team der web-Schule gelang es, sie zu finden. Über die große räumliche Distanz schafften es die fünf Lehrer, einen Zugang zu Bastian zu finden. Ihn neu zu motivieren, ihn zu unterrichten. Bastian fasste Vertrauen, fing an zu lernen, zu arbeiten. Warum? „Die Lehrer von der web-Schule sind einfach lockerer drauf“, erklärt er. „Die haben mir den Druck genommen, alles sofort schaffen zu müssen.“ Aber er hat es geschafft: Nach nur drei Jahren hat er den Stoff aufgeholt, hat jetzt den Hauptschulabschluss in der Tasche: mit der Eins in Mathematik.
Web-Schule feiert dieser Tage ihr zehnjähriges Bestehen
Bastian ist ein typischer Schüler der Bochumer web-Schule, die jetzt zehnjähriges Bestehen feierte. Und dennoch nicht die Regel. Wie er kommen einige aus Jugendhilfe-Maßnahmen, aber etwa die Hälfte der Schüler sind psychisch oder physisch nicht in der Lage, eine Regelschule zu besuchen. Nach Mobbing, nach einem Amoklauf, nach Drogenmissbrauch. Dazu kommen die Exoten: Freigestellte Profisportler wie der Tennisspieler Lynn Max Kempen, drei junge Schauspielerinnen aus dem Wickie-Film, „und neulich hatten wir ein Mädchen, dessen Vater für vier Monate nach Tonga musste“, erzählt Schulleiterin Lichtenberger. „Da haben wir dann nachts den Computer angeschmissen, um Kontakt aufzunehmen.“
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Dann sind da ja noch die prominentesten Absolventen: Die Brüder Kaulitz von Tokio Hotel haben in Bochum den Realschul-Abschluss gemacht, der Schule so zum Durchbruch verholfen. Denn bis die beiden kamen, lief es eher schlecht als recht. Das Konzept der Eins-zu-eins-Betreuung, das Sarah Lichtenbergers Vater entwickelt hatte, trug sich zunächst nicht. Mit Tokio Hotel kam der Erfolg.
Rund 60 Schüler sind eingeschrieben, zehn von ihnen haben jetzt ihren Abschluss gemacht. Alle haben bestanden. „Es bestehen immer alle“, sagt Sarah Lichtenberger. „Hätten wir Zweifel, würden wir sie nicht zur Prüfung zulassen.“ Kinder wie diese könnten keine weitere Niederlage verkraften. Schmu? Kaum: Die Abschlüsse werden extern an einer staatlichen Schule abgelegt. Prüfen darf die web-Schule nicht, dazu fehlt ihr die staatliche Anerkennung. „Was aber auch ein Vorteil ist: Man kann uns keine Daumenschrauben anlegen, was wir unterrichten müssen“, so die Direktorin. „Wir können die Bushido-Biografie lesen oder Adjektive in der Bravo raussuchen.“
„Die Isolation ist ein Nachteil“
Die Schüler bestimmen, was sie interessiert und wann. Manche machen wochenlang nur Mathe, bevor sie sich wieder an Deutsch trauen, andere erstmal nur Bio. Manche für eine Stunde am Tag, andere von neun bis drei. Aber das ist bei allen gleich: Die Lehrer sind per Computer zu erreichen. Sie erklären, stellen Aufgaben. Doch arbeiten müssen die Kinder allein, eigenverantwortlich. „Die Isolation ist ein ganz klarer Nachteil“, gibt die Schulleiterin zu. Der Plausch auf dem Schulhof, der Kontakt zu anderen sei wichtig. „Für meine Tochter würde ich mir wünschen, dass sie die normale Schule durchläuft – denn wir sind nicht die bessere Regelschule.“ Aber für die, die der Schulhof krank mache, für die, die ihn nicht erreichen können „für die können wir eine Alternative sein“.
Eine gute Alternative offenbar: Bastian will jetzt Maurer werden. Einen Ausbildungsplatz hat er bereits ohne Probleme bekommen.