Duisburg. In Tausenden von Gebäuden ticken nach WAZ-Recherchen potenzielle Zeitbomben. Der Grund: Hunderte von Millionen fehlerhafte Kalksandsteine aus dem Hause Haniel. Unter Nässe zerbröseln die Steine. Haniel wurde früh davor gewarnt, produzierte aber weiter. Jetzt häufen sich die Steinfraßfälle – und die Schadensersatzklagen.

In Tausenden von Gebäuden ticken nach WAZ-Recherchen potenzielle Zeitbomben – und kaum jemand ahnt etwas davon. Die Gefahr schlummert im Mauerwerk: in Millionen Kalksandsteinen der ehemaligen Haniel Baustoffwerke, die heute Xella heißen. Unter Feuchtigkeitseinwirkung lösen sich die Steine auf. Der Hersteller weiß das seit Jahren, klärt aber bis heute nicht aktiv darüber auf. Jetzt bröckeln immer mehr Objekte. Schadensersatzklagen häufen sich. Das finanzielle Risiko liegt bei Haniel. Es kann in die Milliarden gehen.

Erst reißen Steine, dann Fugen, Kacheln, ganze Wände und Decken, am Ende gibt das Gemäuer nach. Es ist ein Skandal, über den der größte Kalksandsteinhersteller Europas nicht gern freiwillig redet. Vielleicht auch deshalb: Am 31. Dezember 2011 verjähren Ansprüche. Haniel käme um hohe Schadensersatzforderungen herum, Rechtsnachfolger Xella um einen massiven Imageverlust.

Gutachter: „Mindestens fahrlässig“

Von 1987 bis 1996 brachte Haniel die Bröselsteine in Verkehr, obwohl die Risiken bekannt waren. „Das war mindestens fahrlässig“, sagt der von Xella beauftragte Gutachter Jürgen Witte. Bauexperte Prof. Horst Bossenmayer sieht Risiken für die Standfestigkeit betroffener Gebäude und befürchtet ein „Versagen mit Vorankündigung“. Mit den Steinen wurden nach WAZ-Recherchen Einfamilienhäuser und Doppelhaushälften, Mehrfamilienhäuser, öffentliche Gebäude und Gewerbeimmobilien gebaut.

Wie viele Billigsteine an wen gingen und worin sie stecken, dazu schweigt Xella. Angaben seien „unmöglich“, Schätzungen „unseriös“. Man habe „Kenntnis von 370 Häusern“, die beschädigt seien. Doch Xella weiß einiges mehr. Firmeninterne Dokumente, die der WAZ vorliegen, taxieren „150 bis 200 Millionen“ fehlerhafte Steine; Produktionszahlen deuten auf mehr als 300 Millionen Stück hin. Demnach könnten 20 000 bis 40 000 Gebäude von Steinfraß bedroht sein. Die meisten Steine wurden laut Xella „am Niederrhein, im westlichen Ruhrgebiet und im angrenzenden Münsterland ausgeliefert“.

Strafanzeige gegen Verantwortliche

„Heimlich, still, leise und kulant. So wollen Haniel und Xella über die Runden kommen“, sagt der Duisburger Rechtsanwalt Stefan Kortenkamp. Er vertritt an die 30 Steinfraß-Opfer. Bei den Staatsanwaltschaften Duisburg, Düsseldorf, Krefeld und Kleve hat er Strafanzeige gegen Verantwortliche beider Firmen gestellt. Die Vorwürfe: Betrug in einem besonders schweren Fall, Sachbeschädigung, Baugefährdung, Verstoß gegen die Bauordnung NRW. „Das muss ganz oben aufgehängt werden. Das haben schließlich keine Maurer entschieden, das war die höchste Ebene“, sagt Kortenkamp.

Haniel und Xella reden wenig, sie rechnen mehr. 28 Millionen Euro hätten Sanierungen und Ankäufe beschädigter Häuser bisher gekostet, sagt Haniel. Xella berichtet von „370 Häusern, die betroffen sind“. Demnach hätte jedes Schadensobjekt rund 75 000 Euro gekostet. Interne Xella-Unterlagen sprechen von 100 000 Euro je Schadensfall. Bei 150 bis 300 Millionen insgesamt produzierter und verbauter Bröselsteine könnte die Schlussrechnung im Milliardenbereich liegen. Unter diesem Aspekt wären die zusätzlichen 30 Millionen, die Haniel im Geschäftsbericht 2010 „für Verpflichtungen aus dem Immobilienbereich“ zurückgelegt hat, eher knapp kalkuliert.

„Mit offenen Karten“

Xella fährt mehrgleisig. Auf Anfrage betont die Firma, alle bisher bekannten Bröselstein-Schäden „im Einvernehmen mit den Betroffenen“ reguliert zu haben, „aus Kulanzgründen“. Beschwerdeführern solle der Eindruck vermittelt werden, „Xella spielt mit offenen Karten“, heißt es in einem internen Papier, das der WAZ vorliegt. Aus eigenem Antrieb warnt man nicht vor Risiken.

Schadensersatzansprüche verfallen am 31.12. 2011. Laut Schuldrechtsreform vom 1.1. 2002 gilt, dass Schäden, die vorher unbekannt waren, zehn Jahre später verjähren. „Das ist die Zeitmarke, über die sich Haniel retten will“, sagt Anwalt Kortenkamp.