Bochum/Essen. Früher jeden Abend eine Flasche Wein. Heute ist Ines Walter nüchtern, hilft anderen. Warum vielen nicht bewusst ist, dass sie abhängig sind.
Einen Schluck hat sie immer weggekippt. Damit sie sich selbst sagen konnte: Eine ganze Flasche habe ich nicht getrunken. Hat sie aber – bis auf diesen einen Schluck. Und am nächsten Abend hat Ines Walter wieder eine Flasche geöffnet. Und am nächsten Abend wieder.
Es sind nicht nur Menschen, denen man es sofort ansieht, die ein Alkoholproblem haben. „Eine Abhängigkeit fängt schon viel früher an“, sagt Ines Walter, die lange Zeit in Bochum gelebt hat. Die Abhängigkeit falle nur nicht so schnell auf. Weil die Menschen sich verstecken können, schließlich wird das Trinken von Alkohol in unserer Gesellschaft akzeptiert oder sogar erwünscht. „Irgendwann redet man sich selbst ein, dass es normal ist, jeden Abend seinen Wein zu trinken, um sich wohlzufühlen“, sagt die 47-Jährige – auch aus eigener Erfahrung.
Wenn die Gedanken nur noch um den Alkohol kreisen: Bier, Wein, Alkopop
Ines Walter hat sich dafür entschieden, alkoholfrei zu leben. Heute hilft sie als Coachin in Essen Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind wie sie vor ein paar Jahren. „Wenn sie noch nicht körperlich abhängig sind, wenn sie noch nicht in eine Klinik müssen.“ Aber wenn ihre Gedanken ständig um den Alkohol kreisen.
Viele denken, es gebe Alkoholiker sowie Alkoholikerinnen und es gebe Normal-Trinkende. Aber diese Grenze sei fließend und so gefährlich, denn die Leute machten sich etwas vor: „Ich bin noch nicht alkoholkrank, ich bin noch nicht gefährdet, ich kann noch weitertrinken.“ Doch die Psychologische Beraterin macht auf aktuelle wissenschaftliche Ergebnisse aufmerksam: „Jeder Tropfen Alkohol ist schädlich und regelmäßiger Konsum birgt ein Risiko.“
Alkopop, Bier, Wein: „Die Sucht stellt sich schleichend ein“
Der Grund, warum Menschen überhaupt immer öfter zum Glas greifen, sei sehr verschieden. „Ganz wichtig ist: Die Sucht stellt sich schleichend ein.“ In der Familie ist das Bier am Abend normal, der Sekt zum Geburtstag und das Betrinken im Freundeskreis. Auch Ines Walter hat es so erlebt. Es kann Monate oder auch Jahre dauern, bis eine Sucht entsteht. Der starke Dopamin-Ausschuss sorgt dafür, dass man immer wieder zum Glas greifen möchte. Und dann ist man plötzlich abhängig vom Nervengift.
„Frauen trinken anders als Männer“, betont Ines Walter. „Männer trinken in Gesellschaft, öffentlich, um Spaß zu haben. Sie zeigen sich dabei. Frauen machen das eher heimlich.“ Nachdem sie Familie und Arbeit gemeistert haben, trinken sie sich abends zu Hause den Stress weg. Auch Ines Walter hat versucht, nicht aufzufallen. „Auf Feiern habe ich heimlich ein Glas getrunken, damit die anderen das nicht mitbekommen.“ Und kurz vor Arbeitsschluss hat die Fotografin überlegt: „In welchen Supermarkt gehe ich, um mir die Flasche Wein zu besorgen?“ Möglichst nicht in denselben, in dem sie einen Tag zuvor schon war. „Ich habe mich geschämt.“
Im Visier der Alkohol-Lobby: Frauen
Einerseits haben Frauen in frühester Kindheit gelernt, sich bloß zu benehmen. Andererseits wollen sie heute auch alles erleben, wie es die Männer schon immer durften. Das nutze die Alkoholindustrie, so die Suchtberaterin, und schenke ihnen nun auch Whisky ein: „Die Lobby stürzt sich auf die Frauen als Zielgruppe“, sagt Ines Walter. „Die Zahl der alkoholabhängigen Frauen in Deutschland wächst.“
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Wie steigt man aus? „Bei mir kam die Einsicht, als mein persönlicher Leidensdruck zu hoch war“, sagt Ines Walter. Gesundheitlich ging es ihr schlechter, nachts konnte sie nicht schlafen. „Ich glaube, wenn ich weiter getrunken hätte, wäre ich in die körperliche Abhängigkeit gerutscht.“ Die alleinerziehende Mutter wollte mit ihrer Tochter und ihrem neuen Mann zusammenziehen und sie spürte: „Wenn ich jetzt nicht aufhöre zu trinken, dann setze ich das alles hier aufs Spiel“, erinnert sie sich: „Und dann habe ich mich gegen den Alkohol entschieden und für mein Leben.“
Bier, Alkopop, Wein und dann kommt die Alkoholsucht
Das Glas stehenzulassen, ist ihr erstaunlicherweise leicht gefallen. Aber nicht, die dadurch entstandene innere Leere neu zu füllen. „Ich habe dann angefangen, einen Blog zu schreiben.“ Auch spürte sie nach Wochen, wie sich ihr Körper veränderte. „Ich bin nervös geworden.“ Wie vor einer Prüfung. Einkaufen, fern gucken? „Diese ganzen Sinneswahrnehmungen waren mir zu viel.“ Ihr Körper kannte das nüchterne Leben gar nicht mehr. Sie suchte sich Hilfe, ging zu einer Suchtberatungsstelle. Dort versicherte man ihr: Das ist normal. Und schließlich wurde es besser.
Ines Walter möchte alte Denkmuster aufbrechen, denn die haben ebenfalls dazu beigetragen, dass sie lange Zeit mit dem Alkohol nicht aufgehört hat. Sie wollte von der Gesellschaft keinen Stempel aufgedrückt bekommen: Trinkerin, Alkoholsüchtige, für immer krank, angewiesen auf Selbsthilfegruppen. „Ich wollte mich nicht wie eine Aussätzige fühlen.“ Ines Walter ist seit Anfang 2019 „nüchtern“. Das Wort „trockene Alkoholikerin“ empfindet sie ebenfalls als Stigma. Und ebenso den skeptischen Blick auf die Menschen, die sich für ein Leben ohne Alkohol entschieden haben: Sie werden doch wohl nicht wieder rückfällig?
Alkopop, Bier, Wein – Momente, in denen das Verlangen nach Alkohol groß ist
Natürlich bestehe die Gefahr, wieder zum Alkohol zu greifen, insbesondere wenn man mit großer Willenskraft aufgehört hat, aber immer noch einen Verzicht spüre. Wann ist die Gefahr am größten? „Ich habe immer gedacht, ein Schicksalsschlag könnte es sein. Mein Vater lag einmal im Krankenhaus. Ich habe gedacht: Ich fange wieder an zu trinken, habe ich aber nicht.“ Sie fand es goldwert, in solch einer schwierigen Lebenssituation nüchtern zu sein.
Das Verlangen nach Alkohol habe sie heute nicht mehr. Aber natürlich kenne sie „Blitzmomente“, in denen sie sich kurz danach sehnt, wieder ein Glas in der Hand zu halten. „Ein Beispiel: Wenn im Frühling die Biergärten öffnen.“
Muss sich zwangsläufig der Alltag komplett ändern, vielleicht sogar der Freundeskreis, um es zu schaffen? Nicht unbedingt, so Ines Walter. Es komme darauf an, wie die Menschen um einen herum reagieren. „Bei mir hat sich der Freundeskreis automatisch verändert.“ Aber nicht, weil ihre alten Freunde sie zum Trinken verleitet hätten. „Wir hatten plötzlich andere Interessen.“
Ein Freund trinkt zu viel Alkohol: Bitte ansprechen
Sie wünscht sich, dass enge Freunde und Familienmitglieder ihre Lieben darauf ansprechen, wenn sie sich sorgen, da trinkt jemand viel. „Die meisten Menschen trauen sich nicht, es wird totgeschwiegen.“ Aber ein Hinweis, ein liebevoller, ohne Vorwurf, könne helfen. Selbst wenn die Person sich in dem ersten Moment nicht darauf einlässt, erinnert sie sich vielleicht später daran.
Manche möchten beweisen, dass sie auch ohne Alkohol sein können – und verzichten zum Beweis ein paar Tage darauf. Aber das beweise noch lange nicht, dass man auch auf Dauer ohne Alkohol leben kann, sagt Ines Walter: „Man sollte etwa 100 Tage nichts trinken, drei Monate lang. Dann hat sich der Stoffwechsel großteils umgestellt und neue Gewohnheiten haben sich etabliert.“
Der Austausch mit Menschen, denen es ähnlich ergeht, hilft. Ines Walter hat ihn über die sozialen Medien gesucht und gefunden. „Erst glaubt man, man ist allein mit diesen Problemen. Aber es gibt ganz viele, denen es ähnlich geht.“