Bochum. Jeden Abend Alkohol – das war das Ritual von Ines Walter aus Bochum. Bis sie merkte: es reicht. Heute ist sie trocken und will anderen helfen.

Diese Situation kennen viele: Der Tag neigt sich dem Ende entgegen, der Druck fällt langsam ab, draußen wird es still – da geht der Griff ins Weinregal. Etwa eine Flasche Rotwein hat Ines Walter aus Bochum jeden Abend getrunken, dies über viele Jahre. „Das war mein Ritual für die Abendstunden“, erzählt sie. „Ohne den Wein ging es irgendwann gar nicht mehr.“ Für sie war es ein langer, zermürbender Prozess, bis sie endlich den Mut fasste und sich selbst eingestand: „Ich bin alkoholabhängig.“ Heute hat sie ihre Sucht überwunden und möchte andere davor warnen, der Alltagsdroge Alkohol so zu verfallen, wie sie es tat.

Fotografin aus Bochum erzählt von ihrer Alkoholsucht

Ines Walter (47) stammt aus Paderborn, im Alter von sechs Jahren kam sie nach Bochum und lebt heute in Essen. Die Fotografie war immer ihre größte Passion: „Am liebsten mache ich Porträts, um den Menschen möglichst nah zu kommen“, sagt sie. Auf das Fachabi folgte eine Ausbildung zur Fotografin.

Neben der Arbeit lernte sie früh die zügellosen Seiten des Lebens kennen: „Seitdem ich 15 Jahre alt war, habe ich regelmäßig Alkohol getrunken.“ Mit den Freunden aus ihrer Clique, von denen viele ebenso trinkfest waren wie sie, machte sie das Bochumer Nachtleben unsicher. „Das Bermudadreieck war mein zweites Wohnzimmer“, sagt sie. „Wir haben Party gemacht ohne Ende.“ Als Au-pair ging sie daraufhin für ein Jahr in die USA – und auch hier war der Alkohol ihr treuer Begleiter. „Das war in der Familie eines Anwalts. Da gab es nachmittags um fünf schon die ersten Drinks, gern etwas Hochprozentiges.“

Der Alkohol – ein treuer Begleiter: Auf nächtlichen Partys mit Freunden lernte Ines Walter die tückische „Alltagsdroge“ kennen (Symbolbild).
Der Alkohol – ein treuer Begleiter: Auf nächtlichen Partys mit Freunden lernte Ines Walter die tückische „Alltagsdroge“ kennen (Symbolbild). © Getty Images/iStockphoto | Rawpixel

Im Jahr 2002 wurde sie Mutter einer Tochter. Die Schwangerschaft überstand sie komplett ohne Alkohol: „Das fiel mir überhaupt nicht schwer. Doch direkt nach der Stillzeit fing ich wieder an, als wäre es nie anders gewesen.“ Ines Walter ist alleinerziehende Mutter, zu dem Vater ihrer Tochter hat sie keinen Kontakt mehr. Da sei das abendliche Öffnen der Weinflasche ein Seelentröster und Stressabbau gleichermaßen gewesen. „Ich hatte die Sucht komplett in meinen Alltag integriert. Immer heimlich, denn meine Tochter sollte davon nichts mitbekommen.“

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Vor Freunden wusste sie die Abhängigkeit gut zu verstecken

So wie ihr würde es vielen alleinerziehenden Müttern gehen, die ein Ventil brauchen, um mit der Doppelbelastung aus Job und Haushalt, mit den vielen Sorgen und Zukunftsängsten umzugehen.

Vor Freunden und Kollegen wusste sie, ihre Abhängigkeit gut zu verstecken. „Ich habe immer genau geschaut, was am nächsten Tag los war und den Alkoholkonsum dementsprechend angepasst“, sagt sie. „Dafür braucht es einige Disziplin.“ Da seien es statt dem Wein manchmal „nur zwei Piccolo“ gewesen, wenn am nächsten Morgen ein wichtiger Termin stattfand: „Rückblickend weiß ich gar nicht mehr, wie ich das alles geschafft habe.“

Ihr abendliches „Ritual“, wie sie es nennt, zelebrierte sie weiter. Auch ihr jetziger Mann, der nie Alkohol trinke, habe davon lange kaum etwas mitbekommen. „Ich wurde eine Meisterin des Vertuschens. Es hämmerte nur immer in meinem Hinterkopf, weil ich genau wusste, dass hier etwas kolossal falsch lief“, sagt sie. Und: „Ich hatte große Angst, aus dem Loch irgendwann nicht mehr rauszukommen.“

„Das Bermudadreieck war mein zweites Wohnzimmer“: Mit ihrer Clique zog Ines Walter über viele Jahre durch Bochums bekanntes Kneipenviertel.
„Das Bermudadreieck war mein zweites Wohnzimmer“: Mit ihrer Clique zog Ines Walter über viele Jahre durch Bochums bekanntes Kneipenviertel. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Doch bis man zu diesem Punkt gelange, sei es ein harter Weg. Ines Walter suchte Hilfe bei einer Suchtberatung, die ihr kaum weitergeholfen habe. „In Selbsthilfegruppen wollte ich nicht gehen, da war mein Schamgefühl zu groß.“ Erst die Lektüre eines Buches habe ihr die Augen geöffnet: „Endlich ohne Alkohol“ von Alan Carr. „Er beschreibt es klipp und klar: Alkohol ist eine süchtig machende Droge. Doch man kann gesund werden.“

Seit Anfang 2019 kein Glas Alkohol mehr angerührt

Für Ines Walter gehört einiger Mut dazu, mit ihrer Geschichte in die Öffentlichkeit zu gehen, um auch andere vor den Folgen des dauerhaften Trinkens zu warnen. Anfang 2019, so erzählt sie, habe sie den Absprung endgültig geschafft und seither kein Glas mehr angerührt. „Den Alkohol stehen zu lassen, war überraschend leicht“, sagt sie. „Schwer war es, das Loch zu füllen, das der Alkohol hinterlassen hat. Doch ich habe durchgehalten, dafür bin ich unendlich dankbar.“

Alkoholfrei leben: Workshops und Vorträge

Wie viel Alkohol ist zu viel? Diese Frage sei nicht leicht zu beantworten: „Alkohol ist ein Zellgift, jedes Glas ist schädlich“, sagt Ines Walter. Wichtig sei immer zu wissen, ob man aus Genuss trinke oder um Sorgen und Ängste damit zu betäuben. „Auch wenn die Menge stetig steigt, ist das ein wichtiges Alarmsignal.“

Als Coachin unterstützt Ines Walter Menschen auf ihrem Weg in ein Leben ohne Alkohol und bietet Workshops und Vorträge zum Thema „Alkoholfrei leben“ an. Dafür ist sie auch auf der Suche nach geeigneten Räumen. Alle Infos: ineswalter-coaching.de

Um ihre Erlebnisse zu verarbeiten, schreibt sie gelegentlich Tagebuch, das sie in einem Blog auch öffentlich macht. Dazu hat sie neben ihrer Arbeit als Fotografin eine Ausbildung zur psychologischen Beraterin mit Schwerpunkt Sucht begonnen. Doch ob sie ihre Sucht jemals komplett überwinden wird? Da ist sie sich nicht ganz sicher. „Wenn ich in einem Restaurant einen schön gedeckten Tisch mit Weingläsern sehe, dann blitzt plötzlich etwas in mir auf. Die Erinnerung an die vielen Trinkabende, die so normal für mich waren.“

Doch deswegen nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, kommt für Ines Walter nicht infrage. Sie bestellt dann lieber eine Apfelschorle.