Mülheim. Familie Dregenus lebt im Ausnahmezustand, ständig ist sie in Notbetreuung. Warum andere Eltern deshalb eine 4-Tage-Woche in der Kita fordern.

Es ist ein tägliches Zittern und Bangen: „Schaffe ich es heute, meinen Papierkram abzuarbeiten? Wird das Kind im Homeoffice gut drauf sein? Kommt wieder eine plötzliche Hiobsbotschaft aus der Kita, dass das zweite Kind auch abgeholt und notbetreut werden muss?“ Fragen, die Dirk Dregenus (39) und seine Frau Romina (36) seit anderthalb Jahren beschäftigen. Denn der chronische Personalmangel ist in ihrer Kita in Mülheim mittlerweile ein Dauerzustand.

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Nicht selten baut Romina Dregenus zwischen zwei Meetings Lego für die Kinder auf – und hofft, dass sich Fritz (4) und Tamina (2) lange damit beschäftigen. Ihr Schreibtisch steht mittlerweile im Wohnzimmer. Wenn es ungünstig läuft, fliegen während des Meetings Legosteine. Dann muss das iPad zur Ablenkung her. „Obwohl wir das eigentlich gar nicht wollen“, sagt Dirk Dregenus. „Wir leben in einem ständigen Spagat zwischen Kindererziehung und Beruf.“

Notbetreuung in NRW-Kitas: Viele Eltern gehen derzeit auf dem Zahnfleisch

Eingeschränkte Betreuungszeiten, Gruppen- oder sogar Kita-Schließungen: Die Lage in den NRW-Kitas spitzt sich weiter zu. Wie groß der Personalmangel aktuell ist, zeigen neue Zahlen. Im Februar meldeten die rund 10.700 Kindertageseinrichtungen in NRW den Landschaftsverbänden insgesamt 3204 „Unterschreitungen der Mindestpersonalgrenze“.

„Wie gut können Sie Familie und Beruf vereinbaren? Und wie familienfreundlich ist Ihr Arbeitgeber?“ Das haben wir unsere Userinnen und User für den großen WAZ-Familiencheck gefragt. Mehr als 7000 Menschen aus dem Ruhrgebiet haben an der nicht-repräsentativen Umfrage teilgenommen. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bewerten sie im Durchschnitt mit der Schulnote „Zwei minus“. Besser schneiden die Arbeitgeber selbst ab: Ihre Familienfreundlichkeit wird durchschnittlich mit einer glatten Zwei benotet. Auffällig ist dabei allerdings, dass die Arbeitgeber anscheinend zu selten eine spontane Kinderbetreuung (Schulnote 2,9) oder Home-Office (Schulnote 3,6) ermöglichen. Vor welchen Herausforderungen stehen Eltern im Alltag? Und wie muss sich die Arbeitswelt verändern? Weitere Texte unseres Schwerpunkts lesen Sie hier:

Eltern sind zunehmend verzweifelt: Eine Mutter erzählte dieser Redaktion, dass sie Angst habe, ihren Job zu wechseln. Sie könnte ja wegen der hohen Fehlzeiten in der Probezeit gekündigt werden. Ein Vater spricht von „familiären Zerwürfnissen“, wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht. Und eine dritte Mutter hat ein schlechtes Gewissen, ihr Kita-Kind im Homeoffice den ganzen Tag vor dem Fernseher „zu parken“. Kurz: Viele Eltern an Rhein und Ruhr gehen derzeit auf dem Zahnfleisch. Immer öfter werden Rufe nach verkürzten Betreuungszeiten und sogar nach einer Vier-Tage-Woche laut, um besser planen zu können.

Morgens vor der Kita beginnt für Familie „das große Planen“

Dirk und Romina Dregenus etwa haben ihren Alltag an die Kita-Notsituation angepasst, immer ist jemand da, der betreuen kann. Romina Dregenus hat deshalb schon ihre Stunden bei der Arbeit reduziert. Jeden Morgen um sieben wandert ihr Blick direkt in die E-Mails – immer in der Hoffnung, dass die Kita-Gruppe geöffnet ist, dass kein Kind früher abgeholt werden muss. „Sonst beginnt das große Planen“, sagt ihr Mann.

Die Gewerkschaft Verdi sieht in verkürzten Betreuungszeiten die einzige kurzfristige Lösung. „In der aktuell zugespitzten Lage wird eine Verlässlichkeit der Kindertageseinrichtungen in NRW sicherlich nur zu gewährleisten sein, wenn die Betreuungszeiten vorübergehend reduziert werden“, sagt Tjark Sauer, Gewerkschaftssekretär bei Verdi NRW. Auch wenn eine solche Reduzierung Probleme bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf auslöse, könne sie dazu führen, dass in einem gewissen zeitlichen Umfang wieder mehr Verlässlichkeit bei der Öffnung der Kitas einkehre, erklärt Sauer.

Kita-Eltern fordern Vier-Tage-Woche aus „purer Verzweiflung“

Eltern einer Duisburger Kita gehen in ihrer Not sogar noch weiter: Für mehr Planungssicherheit fordern sie neben verkürzten Betreuungszeiten eine Vier-Tage-Woche. „Das ist pure Verzweiflung“, sagt Eva Hans. Sie engagiert sich im Elternrat der Kita. Seit September habe dort in der Regel jede Gruppe einmal in der Woche geschlossen, sagt die 45-Jährige. Jeden Tag rätseln die Eltern, welche Gruppe wohl diesmal schließt. „Viele sind in großer Not, müssen sich gegenüber ihren Arbeitgebern erklären“, sagt Eva Hans. Schließlich habe nicht jeder Großeltern in der Nähe oder könne von zu Hause aus arbeiten. „Die Anspannung geht bei einigen Eltern an die Substanz.“ Hans berichtet von einer Mutter, die montagmorgens immer von der Nachtschicht eines 24-Stunden-Dienstes nach Hause kommt. „Wenn sie dann erfährt, dass die Kita zu hat, weiß sie, dass sie an diesem Tag nicht schlafen wird.“

Dirk Dregenus mit seiner Tochter Tamina auf einem Mülheimer Spielplatz.
Dirk Dregenus mit seiner Tochter Tamina auf einem Mülheimer Spielplatz. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Gerade für Eltern wie sie, die in Schichten arbeiten oder lange Pendelwege haben, braucht es in den Kitas lange Öffnungszeiten – und keine Vier-Tage-Woche, sagt Gerhard Bosch, Arbeitsmarktexperte an der Uni Duisburg-Essen. „Das wäre aus meiner Sicht eine Verschlechterung im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, sagt er. >>> Das Interview mit dem Arbeitsmarkt-Experten Gerhard Bosch lesen Sie hier: Kita-Personalmangel: Löst eine Vier-Tage-Woche das Problem?

Auch für Dirk Dregenus ist eine Vier-Tage-Woche in der Kita keine gute Option. „Ich muss schließlich weiter meinen Job ausüben und mein Kind währenddessen betreut wissen“, sagt er. Solange sich nichts ändert, ist er nachmittags mit seinen Kindern auf dem Spielplatz, seit Monaten ein Pflichtprogramm der Familie, um die Notbetreuung zu kompensieren und die Kinder auszulasten. Damit keine Legosteine mehr durch die Telefonkonferenz von Mutter Romina Dregenus fliegen.

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