Ruhrgebiet. Stau auf der Autobahn, die Bahn kommt nicht: Nirgends läuft der Verkehr schlechter als im Ruhrgebiet, heißt es. Aber stimmt das denn?

Im Ruhrgebiet sind mehr als 1,5 Millionen Berufspendler unterwegs, zweimal täglich und durchschnittlich 20 Kilometer. Ohne jede Freizeit-, Einkaufs-, Besuchs-, Ausbildungs- und Erledigungsfahrten und ohne die vielen Lkw. Eine Million Berufspendler fahren in ihrem Wohnort, die Autofahrer darunter wären potenzielle Kandidaten für den öffentlichen Nahverkehr. 540.000 arbeiten in einer anderen Stadt, sie hätten es schwerer. Wahrscheinlich tauscht fast jede der 53 Revierstädte täglich Menschen mit fast allen anderen aus. Unterwegs stehen die Leute viel im Stau oder verlieren Zeit mit Umstiegen zwischen Auto, Bus oder Bahn. Alles furchtbar. Oder?

Autofahren im Ruhrgebiet ist einfach nur schlimm

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Der „Tomtom Verkehrsindex 2023“ zeigt: Am langsamsten kommt man mit dem Auto tatsächlich in Hamburg voran. Wer dort im Berufsverkehr fährt, kommt auf Tempo 22, braucht fast 24 Minuten für zehn Kilometer. Es folgen Berlin, Leipzig, Frankfurt . . . Der entsprechende Wert für das westliche Ruhrgebiet lautet Tempo 34, für das östliche Tempo 45. Das sind die Ränge 22 und 27 im deutschen Vergleich, heißt: In mehr als 20 deutschen Ballungsräumen rollt der Verkehr langsamer. International liegt das Ruhrgebiet bei Tomtom sogar nur auf den Plätzen 232 und 332. Selbst Mekka ist langsamer (329.) als Ruhr-Ost.

Auf der Autobahn ist immer Stau

Das Rhein-Ruhr-Gebiet hat das dichteste Autobahnnetz der Welt neben dem Großraum Los Angeles. Wer auf die Karte schaut, entdeckt zumindest im Revier ein ungefähres Raster aus mehreren, grob parallelen Autobahnen zwischen Ost und West sowie Nord und Süd. Damit man ausweichen kann, wenn eine Strecke dicht ist. Zwei dysfunktionale Autobahnen gleichzeitig sind aber nicht einkalkuliert . . . Der ADAC-Staureport für 2023 zeigt: Von über 610 Kilometern Autobahn im Revier sind „nur“ drei lange Abschnitte im nationalen Vergleich besonders stauträchtig: die komplette A42 zwischen Kamp-Lintfort und Dortmund. Die A3 von Oberhausen durch Duisburg (wo sie das Revier verlässt) bis Köln. Und vor allem die A40, etwas weniger zwischen Dortmund und Essen, deutlich mehr zwischen Duisburg und Essen. Noch mehr Staustunden pro Kilometer als dort gibt es auf der A255 in Hamburg.

Die Bahn funktioniert auch nicht

Derzeit ist die Bahn in einem desolaten Zustand. Grundsätzlich sind aber die Ost-West-Verbindungen durch das Ruhrgebiet - wie hier bei Essen - gut.
Derzeit ist die Bahn in einem desolaten Zustand. Grundsätzlich sind aber die Ost-West-Verbindungen durch das Ruhrgebiet - wie hier bei Essen - gut. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Die Bahn funktioniert gerade in ganz Deutschland schlecht, weil sie jahrelang auf Verschleiß betrieben wurde und Investitionen zu lange unterblieben. Richtig ist aber auch: Zwischen Duisburg und Dortmund fahren - sowohl durch die Hellweg- als auch die Emscherstädte - Züge und S-Bahnen ohne Ende. In der Regel ist es deutlich schwieriger, sich über die eigene Stadtgrenze hinaus zwischen Süden und Norden fortzubewegen., „Das Bahnnetz ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden“, sagt Lothar Ebbers von ,pro Bahn‘: „Hier lag ein Schwerpunkt in der Anbindung der Ruhrgebietsindustrie an den Rhein.“ Das merken wir noch heute. Und: Zwischen Ost und West wohnen im eher langgestreckten Ruhrgebiet viel mehr Menschen, nach Norden und Süden erreicht die Bahn schnell die dünner besiedelten Ränder und damit weniger Fahrgäste.

Wir fahren, wie man heute in Metropolen fährt

Nein. Der ,Modal Split‘ bezeichnet die Nutzung verschiedener Verkehrsträger. Hier die Werte für Essen 2019, in Klammern die Vergleichszahlen von Berlin 2018: Auto 55% (Berlin 26%), Rad 7% (18%), ÖPNV 19% (27%), zu Fuß 19% (30%). In einem Mobilitätsbericht des Regionalverbandes Ruhr heißt es: „Auffällig ist die hohe Pkw-Dichte . . . . bei gleichzeitig geringerem Durchschnittseinkommen.“ In Dortmund oder Essen kommen deutlich mehr als 400 Privatwagen auf 1000 Einwohner und Einwohnerinnen, das ist viel für Großstädter. In Berlin sind es nur etwas mehr als 300. Zu deutsch: Wir stehen uns buchstäblich selbst im Weg.

Immer mehr Leute fahren Rad

Naja. Dieser ,Modal Split‘ ändert sich nur äußerst träge, selbst über Jahrzehnte betrachtet. Der Anteil des Fahrrads wächst tatsächlich, aber langsam. In einer deutschlandweiten Untersuchung, in der das Ruhrgebiet nicht vorkommt, liegt in Großstädten der Anteil der Wege, die die Menschen mit dem Rad zurücklegen, zwischen 28 und 2 Prozent (das ist natürlich das hügelige Wuppertal). Untersuchungen fanden außerdem heraus: Mehr Radfahrer und Radfahrerinnen bedeutet nicht automatisch weniger Autos. Sondern auch weniger Leute, die - laufen.

Der ÖPNV müsste laufen wie in Berlin oder Wien

Der Nahverkehr bekommt von verschiedenen Gutachter-Büros eigentlich gute Noten: Solange es um ein Stadtgebiet geht wie hier in Bochum. Überregional ist die Verknüpfung aber oft mangelhaft und zeitraubend.
Der Nahverkehr bekommt von verschiedenen Gutachter-Büros eigentlich gute Noten: Solange es um ein Stadtgebiet geht wie hier in Bochum. Überregional ist die Verknüpfung aber oft mangelhaft und zeitraubend. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald

Den Nahverkehr zumindest in den großen Revierstädten „kann man keinesfalls als schlecht bezeichnen“, so Roland Priester vom Gutachter-Büro ptvgroup. Das Problem des Ruhrgebiets ist: In normalen Metropolen muss der Nahverkehr im Wesentlichen morgens alle Menschen in die eine Stadtmitte bringen und nachmittags wieder hinaus. Das Ruhrgebiet hat nicht diese eine Mitte, sondern 53, davon allein 13 großstädtische. Menschen wollen von Bottrop nach Witten und von Hamm nach Duisburg und von Moers nach Bochum und von Unna nach Recklinghausen . . . Schwierig! Priester: „Problematisch wird es insbesondere, wenn man vom Süden der einen Stadt in den Norden der anderen Stadt will. Dann ist meistens zweimal Umsteigen zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln angesagt, und die Fahrt wird unattraktiv, insbesondere im Vergleich zum Auto.“ Jetzt versucht der Verkehrsverbund, mit Fernbussen wie Ostvest-Dortmund oder Dorsten-Oberhausen, die Nord-Süd-Schwäche zu mildern.

Wir haben kein U-Bahn-Netz

Die U-Bahnen im Ruhrgebiet tragen ihre Lückenhaftigkeit im Namen. U11, U17, U18 in Essen, U35 in Bochum, Us mit 40er-Nummern in Dortmund und 60ern in Duisburg . . . was ist mit den Linien dazwischen? Nie gebaut. Anfang der 70er planten die Revierstädte ein gemeinsames Stadtbahn- (und weitgehend U-Bahn-)Netz vor allem für Nord-Süd-Verbindungen. Weil es zu teuer wurde, entstanden nur zumeist unverbundene Teilstücke. Und das reviertypische Durcheinander findet sich auch hier: Oft fahren Stadtbahnen über Tage und Straßenbahnen im Tunneln.

Früher war sowieso alles besser

Schon kurzes Blättern in alten Zeitungsbänden weckt daran äußerste Zweifel. „Fünf Nahverkehrsbetriebe des mittleren Ruhrgebiets streben eine Fusion an“ (1969 - es gibt sie immer noch nicht). „Verkehrschaos auf vielen Autobahnen“ (1973 - vor 51 Jahren). „Die Bürger im Ruhrgebiet brauchen dringend einen schnellen Nahverkehr mit abgestimmten Fahrplänen, so der Minister“ (1977 - könnte er auch heute fordern). „Ziel des sechsspurigen Ausbaus ist es, den täglichen Stau während der Hauptverkehrszeiten abzuwenden“ (1985 - gilt vielerorts weiter und bewirkt oft nichts). „Viele Hindernisse im Verkehr: So reagieren Pendler im Revier“ (2024).