Ruhrgebiet/Recklinghausen. 79 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz gedenkt das Ruhrgebiet der deportierten Juden. Warum die Menschen dazu Koffer mitbringen.

Sie kommen mit großen Koffern, mit Reisetaschen, mit Trolleys. Doch es ist nur leichtes Gepäck, meistens ist es leer – und wiegt trotzdem tonnenschwer: Die Reisegesellschaft der 500 will an die Deportation jüdischer Bürger im Dritten Reich erinnern. Mit dem „Koffermarsch“ begeht Recklinghausen schon am Freitag den internationalen Holocaust-Gedenktag.

Für die Kreisstadt im Vest steht der 27. Januar gleich zweimal im Geschichtsbuch. Vor 79 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit, zu diesem Datum gedenkt an diesem Wochenende das ganze Land und auch das Ruhrgebiet der verfolgten Juden. Der 27. Januar 1942 ist aber auch der Tag, an dem 215 Mitglieder der damaligen jüdischen Gemeinde Recklinghausens gezwungen wurden, die Stadt zu verlassen. Mit einem einzigen Koffer die meisten. Wenn sie denn noch etwas hatten, was sie einpacken konnten.

Mit leichtem Gepäck vor dem Rathaus: Etwa 500 Menschen begehen in Recklinghausen den Holocaust-Gedenktag.
Mit leichtem Gepäck vor dem Rathaus: Etwa 500 Menschen begehen in Recklinghausen den Holocaust-Gedenktag. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Lederkoffer, Schrankkoffer, Arztkoffer

Wie sie bringen die 500 Menschen auch am Freitag einen Koffer mit zum Rathaus, etwas zu früh zwar, aber am Abend beginnt der Shabbat. Viele haben einen abgeschabten Pappkoffer vom Dachboden geholt, es rollt ein himmelblauer Trolley, es gibt Aktentaschen, Fahrradtaschen, Reisetaschen und einen geflochtenen Picknickkorb. Einen schicken Filzkoffer, einen grünen Lederkoffer aus den 70ern, einen Schrankkoffer, die Rollen klappern leise über den Asphalt. Manche haben einen Schriftzug auf die Seiten geklebt: #weremember, Wir erinnern (uns). Dieser Hashtag ist dem Gedenktag zur Parole geworden.

Heute liegen die Taschen leicht in der Hand, aber nicht nur Christina mit ihrer historischen Aktentasche hat „darüber nachgedacht, was damals darin war“: Ein bisschen Wäsche wahrscheinlich, vermutet die 63-Jährige, ein paar Dokumente, Erinnerungsstücke? „Kleidung, die man mitnimmt, wenn man schnell wegmuss“, sagt Ida (70), mehr noch: „Alles, was sie hatten“, sagt Renate (66) spontan, „ein ganzes Haus in einen Koffer“. Aber der war ja klein damals, Schuhe hätten wohl zu viel Platz weggenommen, Unterwäsche also, „der Lieblingsring von Oma“? „Bedrückend“ findet Christina den Gedanken, „eindrücklich“, sagt Renate.

„We Remember“ ist der gemeinsame Ruf des internationalen Holocaust-Gedenktags: Wir erinnern (uns).
„We Remember“ ist der gemeinsame Ruf des internationalen Holocaust-Gedenktags: Wir erinnern (uns). © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

In der Schule gelernt: Juden durften nicht aussuchen, was sie mitnehmen

„Beklemmend“, findet Iris. Die 51-Jährige hat einen kleinen Pappkoffer mitgebracht. Der Opa hatte ihn einst dabei, als er aus dem Krieg heimkehrte, die Oma bewahrte alte Fotos darin auf. „Es ist alles nicht vorstellbar“, sagt Iris. Sie und ihre Mutter ziehen noch einen neuen Reisekoffer hinter sich her, der alte, „echte“ würde mindestens viermal hineinpassen – dabei ist es der kleinste, den sie heutzutage besitzen. Auch Frida, Sophia und Lotta aus der siebten Klasse haben einen alten Koffer aufgetrieben. Sie haben in der Schule gelernt, dass die Juden nicht einmal aussuchen durften, was sie einpackten: Kleidung, feste Schuhe, „das war vorgeschrieben“. „Eine schreckliche Vorstellung“, sagt Lotta (12), „dass die in den Tod gelaufen sind.“ Wertgegenstände, vermutet der 17-jährige Emil, hätte man den Betroffenen wohl schon vorher abgenommen: „Da gab es nicht mehr viel zu Mitnehmen.“ Emil und sein Freund Linus tragen uralte Koffer, Erbstücke von Urgroßmutter und Großonkel. Damit „nicht noch mal passiert, dass man Gruppen ausschließt und Schlimmeres“.

Der Demozug, klein und still geradezu gegen die Proteste gegen Rechtsextremismus der vergangenen Wochen, führt nur bis zur Synagoge (die mit ihren großen metallenen Davidsternen auch nach außen sichtbar eine Synagoge ist). Die Reise der Deportierten vor mehr als 80 Jahren war für viele „die letzte“, sagt Bürgermeister Christoph Tesche. Man habe die Menschen gezwungen zu gehen, und „viele ahnten es: Es war eine Reise in den Tod“.

Mit dem Koffer, mit dem der Schwiegervater einst aus dem Krieg heimkehrte:  die 76-jährige Brigitte.
Mit dem Koffer, mit dem der Schwiegervater einst aus dem Krieg heimkehrte: die 76-jährige Brigitte. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Die „Gräueltaten“ der Hamas gegen Israel auch so benennen

Es ist viel die Rede davon in Recklinghausen, dass man „mehr denn je erinnern“ müsse, ein Zeichen setzen, dass „Rechtsaußen keinen Platz hat“. Hodscha Erdinc Ergün als Sprecher der muslimischen Gemeinde wirbt für „eine Welt der Toleranz und Menschlichkeit“ und des Respekts, ohne „Hass und Diskriminierung“. Er zitiert eine Sure aus dem Koran: „Wenn jemand einen Menschen tötet, ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet.“ Der katholische Stadtdechant Karl Kemper mahnt, dass „der menschengemachte Wahnsinn“ des Holocausts „mit kleinen Dingen, kleinen Schritten und kleinen Worten“ begonnen habe. „Wir sind verloren, wenn wir nicht aus der Vergangenheit lernen.“

Es gelte aber auch, sagt Iris am Rande der Kundgebung, „das Existenzrecht Israels zu verteidigen“ und die Gräueltaten vom 7. Oktober durch die Hamas „als Gräueltaten zu benennen“. Auch deshalb erwarten viele Städte diesen Tagen mehr Menschen zum Gedenken als in den Jahren zuvor. „Jeder Angriff auf unsere jüdischen Geschwister“, hat die evangelische Superintendentin Saskia Karpenstein gesagt, „ist auch ein Angriff auf uns.“

Isaac Tourgman lächelt trotzdem viel am Freitag. Der Kantor der jüdischen Gemeinde umarmt die Polizisten, die auch heute gekommen sind, die Juden der Stadt zu schützen. Er hat selbst einen Koffer mitgebracht, er ist aus Filz und sieht noch nicht benutzt aus. Keine Sorge, sagt Tourgman lachend ins Mikrofon, er habe seinen Koffer noch nicht gepackt: „Wir bleiben hier!“ Der zwölfjährigen Frida ist noch etwas eingefallen, das ganz bestimmt ins Gepäck gehört, damals wie heute: „Ganz viel Hoffnung.“

>>WEITERE TERMINE ZUM GEDENKEN:
Das Theater Oberhausen widmet dem Gedenktag einen Programmschwerpunkt: Am Freitag, 26., und Samstag, 27., jeweils um 18.30 Uhr stehen die jüdisch-israelischen Künstlerinnen Sapir Heller und Maya Arad Yasur mit einer Textperformance „Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten“ auf der Bühne. Es geht um „Schmerz und Hilflosigkeit“, die die Hamas-Angriffe vom 7. Oktober hinterlassen haben. Zudem gibt es einen Workshop „Antisemitismus hat viele Gesichter“ (Samstag, 12-16 Uhr) und einen Vortrag zu Antisemitismus (17 Uhr). Karten gibt es kostenlos unter theater-oberhausen.de

In der Christuskirche Bochum performt die Band „All About Joel“ am Samstag, 27. Januar, um 17 Uhr Songs des US-Sängers und Songwriters Billy Joel. Der Musiker verlor einen großen Teil seiner Familie im Holocaust. Moderator Thomas Steinberg liest Szenen aus dem Leben der Familie Joel und fragt, was aus dem Versprechen der Songs nach Glück geblieben ist. Zu Beginn des Abends werden die 597 Namen der Bochumer verlesen, die am 27. Januar 1942 deportiert wurden.
christuskirche-bochum.de

Die Arbeiterwohlfahrt im Unterbezirk Gelsenkirchen/Bottrop erinnert mit einem Rezitationsabend im Gelsenkirchener Alfred-Zingler-Haus, Margarethenhof 10-12, am Samstag, 27. Januar, um 19.30 Uhr an die jüdische Autorin Ilse Weber, die in Theresienstadt starb. Der Eintritt ist frei. Anmeldungen unter veranstaltungen.ini.azh@gmx.de.

Einen Gottesdienst zum Gedenken an die Befreiung von Auschwitz wird am Samstag, 27. Januar, um 16 Uhr in Duisburg gefeiert.

Die Stadt Mülheim an der Ruhr und die Jüdische Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen gedenken der Opfer des Nationalsozialismus am Montag, 29. Januar, um 11 Uhr auf dem Jüdischen Friedhof an der Gracht.

„Nie schweigen“ ist ein szenisches Konzert getitelt, zu dem das Theater Hagen am Samstag, 27. Januar, um 19.30 Uhr einlädt. Es nimmt Bezug auf den Titel eines Buches der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejerano, die im Mädchenorchester von Auschwitz spielte. Der Eintritt ist frei.
www.theater-hagen.de