Dortmund. Jamil Alyou fand 2015 in Dortmund als Fremder eine neue Heimat. Heute kümmert er sich in der Nordstadt um Jugendliche – und die Demokratie.
Früher stellte er sich als „syrischer Dortmunder“ vor, heute sagt er: „Ich bin ein Nordstadtkind.“ „Jamil, der Syrer“ hat ja längst den deutschen Pass. Wo er herkommt, hat Jamil Alyou dennoch nicht vergessen. Wie könnte er? Die Repressalien, denen seine Familie als Kritiker des Assad-Regimes ausgesetzt war, wegen der er aus seiner Heimat flüchten musste, haben den heute 29-Jährigen viel über den Wert der Demokratie gelehrt. Inzwischen kämpft er in Dortmund, als Mitarbeiter des Jugendhilfe- und Flüchtlingshilfevereins „Train of Hope“ sowie im Integrationsbeirat der Stadt für sie. Denn die Demokratie sei auch in Deutschland in Gefahr, glaubt der Student. Für sein Engagement erhält Jamil Alyou in diesem Jahr den Talentaward der Bildungsmetropole Ruhr.
Aufgewachsen ist der gebürtige Syrer in der Hafenstadt Latakia, seine Eltern besaßen dort einen kleinen Kosmetikshop. „Mitten im Ramadan“, am 1. Juli 2015 – er erinnert sich an den Tag, als ob es gestern gewesen wäre – verließ er die Heimat, seine Eltern, die beiden jüngeren Geschwister und „seine 40 Kinder“. Die Pfadfindergruppe, die ihm „das Normale“ gewesen war in einer „bescheuerten Zeit“, in einer Zeit des Bürgerkriegs, der Unterdrückung, der Verfolgung. Beim Abschied seien viele Tränen geflossen, „auf beiden Seiten“.
Der Vater drängte seinen Ältesten nach der Haft zur Flucht
Alyous Familie war aktiv in der Revolutionsbewegung, sie sei deswegen von Schergen des Machthabers Assads bedroht, bedrängt, der Vater sechsmal inhaftiert worden, zuletzt für zwei ganze Jahre. „Schon als er nach dem zweiten Mal aus dem Gefängnis heimkam, habe ich ihn kaum wieder erkannt“, erinnert sich Jamil Alyou. „Er war total abgemagert – und seine Haare waren ganz weiß geworden. Dass er gefoltert worden war, erzählte er mir erst sehr viel später.“ Als die Familie erfuhr, dass Jamil als nächster festgenommen werden sollte, drängte der Vater seinen Ältesten zur Flucht. Der war damals im vierten und vorletzten Jahr seines Elektrotechnik-Studiums; „ich wollte nicht, doch ich musste fliehen“, sagt Alyou. Von Latakia ging es über den Libanon in die Türkei, dann über die Balkanroute nach Griechenland, Serbien, Ungarn und Österreich. 45 Tage dauerte die Flucht – und sie muss furchtbar gewesen sei. Alyou redet nicht gerne darüber, er sagt nur: Sie habe seinen Charakter „geformt“ und ihn stärker gemacht.
Irgendwann landete der syrische Flüchtling im Containerdorf „Am Zoo“ der Stadt Dortmund. Alles war fremd, aber gleich am ersten Tag fing er an, für andere arabische Flüchtlinge zu übersetzen, „ich sprach ja ganz gut Englisch“. Rasant schnell lernte Alyou auch Deutsch, „ich wollte etwas sagen, ich habe etwas zu sagen, ich habe immer etwas zu sagen, deshalb ging es schnell“, erklärt er. Mitarbeiter von „Train of Hope“ halfen bei der Integration – und sie mussten nicht lange bitten, um auch den jungen Syrer für ein ehrenamtliches Engagement in dem frisch gegründeten Flüchtlingsverein zu gewinnen. „Ich wäre heute nicht der, der ich bin, ohne Train of Hope. Ich wäre sehr viel einsamer. Der Verein war mir damals Zuhause, Familie. Deshalb engagiere ich mich nun für andere.“
Die Philosophie von „Train of Hope“: „Empowerment durch Ehrenamt“
„Empowerment durch Ehrenamt“ nennt er diese Philosophie. „Und das funktioniert nicht nur bei mir“, sagt Alyou. Der Verein ist anerkannter Jugendhilfeträger für Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte und Anlaufstelle für Queer; Obdachlose haben sie während der Pandemie, als die Suppenküchen dicht waren bekocht; Kindern ukrainischer Kriegsflüchtlinge eine Spieleecke eingerichtet; kleine Roma und Sinti von der Straße geholt. Es gibt in den Vereinsräumen ein Sprachcafé, Tanz-, Deutsch-, Computer- Klavier- sowie Englischkurse, Nachhilfe, Bildungsmentoring, einen Rollenspieltreff und viele andere Angebote oder Arbeitskreise mehr. Wer mag, darf kommen. 200 Aktive managen das. An den Wänden prangen Schriftzüge wie „Believe in Yourself“ oder „Vielfalt ist allmächtig“.
Jamil Alyou ist heute hauptamtlicher Mitarbeiter und Projektleiter, er koordiniert den Kinder- und Jugendbereich des Vereins, sein Schwerpunkt liegt auf der politischen Bildung; parallel dazu studiert er – mit einem Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung – Soziale Arbeit an der Fachhochschule Dortmund. Im kommenden Jahr wird er seinen Abschluss machen. Als Ingenieur, weiß er, hätte er einmal mehr verdienen können. „Aber das, was ich hier mache. Das ist meine Leidenschaft. Dafür stehe ich morgens auf...“
Die Demokratie, ergänzt er, habe es zudem doch verdient, dass man sich für sie einsetze. „Ich habe eine Diktatur erlebt, ich weiß, was es heißt, ohne Freiheit und Würde zu leben.“ Jungen Menschen in Deutschland erzählt er auf Veranstaltungen von seinen Erfahrungen. Dass die Wände in Syrien Ohren hätten vielleicht, oder dass Freunde bei Demos erschossen worden seien.
„Wer sich nicht für Politik interessiert, interessiert sich nicht für sein eigenes Leben“
Das heutige Deutschland, sagt Alyou,sei aus einer Diktatur auferstanden, es habe es „hingekriegt“, die bestmögliche Form von Demokratie zu entwickeln. „Aber an einer solchen Gesellschaft muss man arbeiten.“ Und er erlebe sie gerade als „gefährdet“, die Gesellschaft zunehmend als gespalten. „Auch Junge wählen heute sehr rechts, das hätte ich nie erwartet.“
Beinahe schlimmer noch findet er, dass immer mehr Jugendliche sich gar nicht mehr für Politik interessierten. „Alles ist doch Politik“, findet er. „Und wer sich nicht dafür interessiert, interessiert sich nicht für sein eigenes Leben.“ Spielerisch machen sie die Jüngeren bei Train of Hope deswegen mit dem Thema vertraut. Jüngst etwa sei man bei einem Imker, der den Kindern die Aufgaben von Königin und Arbeiterinnen im Bienenstaat erklärte, „auf das Thema Demokratie gekommen“.
Selbst beim Imker „kommt man auf die Demokratie“
Ältere bringt Alyou oft zusammen mit Politikern – und bereitet sie gründlich auf die Treffen vor. „Gregor Gysi, Christian Wulff oder Serap Güler etwa hatten wir schon hier“, erzählt er und man hört, dass er stolz darauf ist, wie „seine Jugendlichen“ die Gäste „grillten“, „höflich, aber hartnäckig“. Er organisiert zudem Besuche von Land- und Bundestag oder „Versöhnungs-Workshops“ für Zugewanderte und Alteingessene „aus der Mehrheitsgesellschaft“. „Wer sich kennenlernt, baut Vorurteile ab. Und nach drei Tagen sind Abdul aus Syrien und Bert aus Deutschland, die nicht nur 40 Jahre Altersunterschied trennen und die sich anfangs überhaupt nicht ausstehen konnten, plötzlich Freunde.“
Am Abend der Preisverleihung wird Sabera neben ihm auf der Bühne stehen. Ein Mädchen aus Afghanistan, das Alyou im Train of Hope einst unter seine Fittiche genommen hat, sie gefordert und gefördert hat. „Ich hab sie ganz schön genervt“, sagt Alyou, aber heute sei Sabera „eine wunderbare junge Frau, ein Paradebeispiel für Emanzipation“. Sie habe schon ein Buch geschrieben und dafür einen Preis bekommen. Außerdem leitet sie die Mädchengruppe und den Leseclub bei Train of Hope.
Mehr zur Arbeit von Train of Hope finden Sie hier.
>>> INFO: Der Talentaward
Einmal im Jahr vergibt die Talentmetropole Ruhr, eine Tochter der Bildungsmetropole Ruhr, ihren Talentaward vergeben – eine Auszeichnung für Menschen, die sich in besonderem Maße für die Entdeckung und Entwicklung von Begabungen bei jungen Menschen einsetzen.
Seit 2013 wurden bereits 70 vorbildliche Talentförderer und 42 Projekte geehrt. Der Preis ist mit 5.000 Euro dotiert.
>>>INFO: Vier weitere Preisträger
Vier weitere Talentförderer wurden in diesem Jahr mit dem Award der Talentmetropole ausgezeichnet.
Hanim Gül (48): Man muss nicht zwingend Deutsch sprechen, um ein Lied singen oder ein Instrument spielen zu können, meint Hanim Gül. Die dreifache Mutter gründete vor zehn Jahren in Duisburg Rheinhausen die internationale Jugendbühne „bahtalo“, um Kindern gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Damals gab es Spannungen rund um ein „Problemhaus“ im Stadtteil, gemeinsam mit der Musikerin Annegret Keller-Steegmann wollte sie betroffene Roma-Kindern „mit Kultur aus der Situation rausholen“. Mit 20 kleinen Theaterspielern, Sängern. Tänzern und Musikern startete das Projekt in den Sommerferien 2013.
Heute machen 200 Kinder unter auch aus Syrien oder Afrika, bei „bahtalo“ mit, was in der Sprache der Roma Hoffnung und Freude heißt. Hanim Gül ist noch immer „die Mama der Theaterbühne“.
Kristina Gusseva (29) und Kim Pöckler (31): Sie regten im vergangenen Jahr in Witten einen Treff für ukrainische Kinder an, die mit ihren Familie vor den russischen Angriffen nach Deutschland geflohen waren.
„Es ist einfach nur schrecklich, was sie erleben mussten. Da wollte ich auf jeden Fall etwas für sie tun“, erinnert sich Gusseva (re.), die selbst aus Kasachstan stammt. Im „Signal of Youth“ starteten die beiden Frauen nun auch ein Jugendprojekt zur Förderung der Digitalkompetenz und Geschlechtergerechtigkeit, die erste Aufgabe: mit einer speziellen Software digital ein Buch zu entwerfen. Aber auch Mails zu verfassen und online zu recherchieren lernen die neun- bis 14-Jährigen Ukrainer in der AG. Dass Digitales „kein Jungskram“ ist, braucht sie längst niemandem mehr zu erklären.
Ilona Kochems (39): Die Idee zur „Apprentice Unit“ kam der gelernten Gesundheits- und Krankenpflegerin unter der Dusche, am Schreibtisch entwarf sie später das Konzept für die künftige Ausbildung von Pflegekräften am Knappschaftskrankenhaus Bottrop. Kochems will damit dazu beitragen, dass Auszubildenden genau wissen, was sie erwartet. Einerseits. Andererseits will sie damit helfen, das Scheinwerferlicht auf jede einzelne angehende Pflegekraft und ihre Stärken zu richten.
„Auf Station“ gibt es nun vier feste Patienten-Zimmer, die von geschulten Praxisanleitern betreut werden. gebung“. Gestartet wurde im November 2022 in der Neurologie der Klinik, inzwischen machen auch Innere/Onkologie, Geriatrie, Nephrologie und die interdisziplinäre „Komfortstation“ mit. Wir hätten uns von Anfang an gewünscht, dass es so was gibt“, sagten ihr die alten Hasen unter den Auszubildenden.