Mülheim. . Dorothee Streier-Laufs weckt mit dem Projekt „Engagiert für Demenzkranke“ Begeisterung Begeisterung für einen schwierigen Beruf: Altenpflege.

Krankenschwester oder Ergotherapeut wurden ihre Schüler früher, einige: Logopäde. Altenpfleger: keiner. „Popos abputzen reizte niemanden“, erinnert sich Dorothee Streier-Laufs, Lehrerin am Mülheimer Berufskolleg Stadtmitte. Doch seit 2014 entscheiden sich in jedem Jahrgang zwei bis vier Absolventen des Bildungsgangs „Gesundheit und Soziales“ für eine Altenpflege-Ausbildung. Zwei bis vier von oft nicht einmal 20! Folge des Schulprojekts „Engagiert für Demenzkranke“, für das die 59-Jährige gestern den „Talentaward“ des Initiativkreises Ruhr erhielt.

Am Anfang stand die Idee für ein Oberstufen-Projekt „Ehrenamtliches Engagement“. Ein Schüler mit krankem Opa schlug vor, es im Bereich Demenz anzusiedeln. Die Alzheimer Gesellschaft, ein Pflegedienst sowie „Haus Ruhrgarten“ als Fachpflegeeinrichtung wurden als Partner gewonnen. Am Ende stand das Konzept: Zwölf Nachmittage sollte jeder Schüler in einer Alten-Einrichtung verbringen – mit dementiell Erkrankten. „Was nutzt alles theoretische Wissen über Demenz, wenn ich es nicht anwenden kann“, erklärt Streier-Laufs.

Projekt ist heute für alle verbindlich

Damals, sagt die 59-Jährige, die Sozialwissenschaft, Geschichte und Sozialpädagogik studiert hat, habe sie gehofft, dass sie ihren Schülern „ein neues Berufsfeld auf positive Weise erschließt“ und auch, dass es keine einmalige Aktion bleiben werde. Doch was passierte: „Hätte ich mir nicht erträumt!“. Die Nachmittage mit den alten, kranken Menschen gehören seit fünf Jahren zum regulären Stundenplan; sie sind nun verbindlich für alle Schüler; jeder Jahrgang setzt dabei einen neuen Schwerpunkt. „Sie sei überwältigt gewesen“, sagt Streier-Laufs, „dass man bei Schülern soviel Empathie freisetzen kann.“

„Mein Herz blüht auf, wenn ich die Alten glücklich sehe“

Werden Altenpflegerinnen: Charleen Baumgarth (l.) und Aylin Bilen (r.) vor „Haus Ruhrgarten“ in Mülheim.
Werden Altenpflegerinnen: Charleen Baumgarth (l.) und Aylin Bilen (r.) vor „Haus Ruhrgarten“ in Mülheim. © Lukas Schulze

Man versteht, was die Lehrerin meint, wenn man Ex-Schülerin Aylin Bilen von ihrem Job erzählen hört. Die 21-Jährige begann vor elf Monaten eine Altenpflege-Ausbildung im „Ruhrgarten“ – und sie schwärmt davon, mit leuchtenden Augen und rührenden Worten. Dabei wollte sie Krankenschwester werden, als sie im Berufskolleg anfing. Doch das Klinik-Praktikum „war mir zu leblos“, erinnert sich die junge Frau. Über das Schulprojekt kam sie ins Altenheim. Und fühlte sich dort auf Anhieb wohl. Sie habe sich auf jeden Nachmittag gefreut „und die Bewohner sich auf mich. Diese Menschen sind so herzlich und so dankbar.“ Und was das „Popo abputzen“ angeht? „Grundpflege gehört zum Beruf“, sagt Bilen. Ihre „Verantwortung“ in diesem Bereich genieße sie sogar. „Ich freue mich, wenn jemand, den ich gewaschen und angezogen habe, schick aussieht und gut riecht. Aber noch mehr, wenn ich ihn mit einem Lächeln im Gesicht im Zimmer zurücklasse.“ Ihr Herz blühe auf, sagt die 21-Jährige, wenn sie die Alten glücklich sehe.

„Solche Altenpfleger“, betont Dorothee Streier-Laufs stolz, „bekommen Sie nicht mit 5000 Euro Prämie!“ Geld sei schnell ausgegeben, die „intrinsische Motivation entscheidender“ – die innere Begeisterung für einen Beruf, dessen schwere Seiten sie keinem Schüler verschweigt: Chronisch unterbesetzte Stationen, schlechte Bezahlung, wenig Anerkennung... „Aber gesellschaftliche Verhältnisse kann man ändern. Gucken Sie nur nach Dänemark. Da werden Altenpfleger gut bezahlt.“ Den Schülern sagt sie: „Dafür müsst ihr kämpfen!“

Erinnere Dich – Spiel: Das Baby des letzten Jahrgangs

Erinnere Dich: Charleen Baumgart (r) und Dorothee Streier: Laufs spielen mit Bewohnerinnen des „Ruhrgartens“ ein Spiel, das Berusfkolleg-Schüler entwickelt haben.
Erinnere Dich: Charleen Baumgart (r) und Dorothee Streier: Laufs spielen mit Bewohnerinnen des „Ruhrgartens“ ein Spiel, das Berusfkolleg-Schüler entwickelt haben. © Lukas Schulze

Von Anfang an ernteten die Jugendlichen viel Lob für ihre Arbeit in den Heimen und Demenz-WGs, in denen sie ihre Projekt-Nachmittage absolvierten – Zuspruch, der für viele eine neue Erfahrung gewesen sei, sagt Streier-Laufs, selbst zweifache Mutter. Ein Spiel, das der letzte Jahrgang im Rahmen des Projekts erfand, wurde inzwischen sogar mehrfach ausgezeichnet. Charleen Baumgarth (20) und ihre Mitschüler entwickelten es zusammen mit Lehrerin und Projektpartnern. Es heißt „Erinnere dich“ und besteht aus zwei Würfeln und 100 Karten, deren Vorderseite ein (lokales) Bild aus den 50-/60er-Jahren ziert: Alltagsszene, Arbeitsplatz, Gebäude, Schauspieler, Politiker... Auf der Rückseite finden sich erklärende Stichworte sowie „Impulse“ für Altenpfleger, die dieses Spiel mit ihren dementen Patienten spielen – und darüber mit ihnen ins Gespräch kommen. Auf Cary Grants „Rücken“ heißt es etwa: „Er war ja ein staatlicher Mann... , aber auch oft verheiratet...“. „Ganz leicht“, sagt Charleen Baumgarth, „gelingt so das Aktivieren und Aufmuntern unserer Bewohner.“ Auch sie hat gerade ihre Altenpflege-Ausbildung im „Ruhrgarten“ begonnen.

Spiel der Schüler: „Erinnere Dich“

„Es war ihr Baby“, sagt Dorothee Streier-Laufs über Charleens Klasse und das Spiel. Wochenlang waren die Schüler mit der Recherche im Stadtarchiv beschäftigt. Die 50-/60er-Jahre wählten sie gezielt aus, denn für heute Hochbetagte war das „eine Zeit voller Hoffnung und Liebe, eine, an die sie sich gern erinnern“. Vom Spiel hat das Berufskolleg mit Hilfe von Sponsoren 20 Exemplare anfertigen lassen – und sie an die Altenheime der Stadt verschenkt. „Demenz geht oft einher mit Depression“, erklärt Charleen Baumgarth. „Und wenn man dagegen etwas tun kann...“

„Ich bin doch nur das Zugpferd, das alle anschiebt“

Dass sie als Talentförderin ausgezeichnet werde, habe sie „sehr gerührt“, gesteht Dorothee Streier-Laufs. Aber wohl auch beschämt. Sie selbst, behauptet die Lehrerin in einem so schiefen wie eindrucksvollem Bild, sei „doch nur das Zugpferd, das immer alle anschiebt“.

Nun, zumindest für Aylin Bilen, die angehende Altenpflegerin, war das mehr als genug. Den letzten Brief an ihre frühere Lehrerin zeichnete sie mit: In Liebe, Aylin.

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