Gelsenkirchen. Seit 2013 ist die Talentmetropole auf der Suche nach starken jungen Menschen, Menschen, die das Revier braucht. 250.000 hat sie bereits entdeckt.

Kinder und Jugendliche aus weniger privilegierten Familien im Revier unterstützt die Talentmetropole Ruhr seit 2013, inzwischen als gemeinnützige Stiftung. Ihr Ansatz lautet: Jeder hat Stärken, aber mancher kennt sie nicht. Das bundesweit einzigartige Projekt schrieb Erfolgsgeschichte, versteht sich auch als Konzept gegen den Fach- und Arbeitskräftemangel vor Ort. In diesem Jahr feiert man 10. Geburtstag, 250.000 junge Talente wurden bereits auf ihrem Weg unterstützt. junge Menschen wie Youssef, Jamie, Anna, Amelie und Finn. Die fünf erzählen, wie Talentcamp, -werkstatt, oder ein anderes der vielen verschiedenen Projekte der Talentmetropole ihr Leben nachhaltig veränderte. Ohne, sagt Amelie, wären mir so viele Türen verschlossen geblieben.

Jamie: Die Lehrer sagten mir, wir sehen keine Zukunft für dich

Jamie (19) aus Lünen: hat eine Ausbildung zur Pflegefachfrau begonnen.
Jamie (19) aus Lünen: hat eine Ausbildung zur Pflegefachfrau begonnen. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Zuhause hatte ich wenig Unterstützung, meine Mutter hat die Schule früh abgebrochen. Ich bin fünf Jahre zu einer Förderschule gegangen, dann zur Gesamtschule. Dort ist jemand, den ich kannte, erstochen worden, das hat mich tief getroffen. Ich hatte aber auch davor Probleme in der Schule, vor allem in Mathe und Deutsch.

Die Lehrer sagten: Wir sehen keine Zukunft für dich. Nur meine Klassenlehrerin glaubte an mich. Sie war es, die mir irgendwann einen Flyer in die Hand gedrückt und gesagt hat: Bewirb dich fürs Talentcamp Ruhr. 2021 war ich dabei.

Ich hatte große Angst, da waren ja nur Fremde. Aber ich fühlte mich nicht allein, im Gegenteil. Ich weiß seither, wie sich Familie anfühlt. Ich hab da gelernt, meine Schüchternheit abzulegen, mich Dinge zu trauen, die mir niemand zutrauen würde, Schreiben etwa. Die Talentmetropole hat mir später sogar einen Bosnien-Austausch ermöglicht, das war meine allererste Auslandsreise.

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Beim Talentfestival gehöre ich nun zum Planungsteam, bin mit zuständig für Moderation, Marketing und Awareness. Ich spiele heute Theater und einen Poetry Slam habe ich auch schon gewonnen. Kürzlich habe ich meiner Deutsch-Lehrerin das Biographien-Buch vorbei gebracht, dass ich mit anderen Jugendlichen zusammen bei den „Change Writers“ heraus gebracht habe. (Geschäftsführer Jörg Knüfken erhielt 2016 den Talentaward Ruhr, die Red.) Meine Lehrerin war echt überrascht...

Vor zwei Jahren habe ich zudem eine Ausbildung zur Pflegefachfrau begonnen, bin mit vollem Herzen dabei, vor allem in der Palliativarbeit. Jetzt habe ich gehört, dass man danach auch noch Abi machen und studieren kann. Allgemeinmedizin würde mich sehr interessieren. Jamie (19), Lünen

Anna: Niemand macht dir Vorwürfe, sie fragen nach Ursachen und wie sie helfen können

Anna (20) aus Gelsenkirchen: studiert in Dortmund „Architektur und Städtebau.
Anna (20) aus Gelsenkirchen: studiert in Dortmund „Architektur und Städtebau. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

2017 bin ich zur Talentmetropole gekommen, über ein Talentcamp, heute bin ich im Alumni-Programm. Da gibt es immer Ansprechpartner für mich, egal, mit welcher Frage ich komme.

Als ich etwa in der Oberstufe Aufholbedarf in Mathe hatte, haben die mich auf das Talentkolleg der Westfälischen Hochschule aufmerksam gemacht, über die ich später wiederum meinen persönlichen Talentscout gefunden habe: Pia, die mich im Bewerbungsverfahren für mein „Architektur und Städtebau“-Studium in Dortmund an die Hand genommen hat.

Niemand muss sich hier schämen für Fehler oder Schwäche. Sie machen dir keine Vorwürfe, sie fragen nach Ursachen und wie man helfen kann.

Mein Weg ist noch immer holprig, der Wechsel von der Schule an die Uni war für mich ein Riesenschritt. Da guckt ja keiner mehr, ob ich mitkomme... Nebenbei arbeite ich als Werkstudentin, deshalb bin ich nicht so schnell, wie ich es es gerne wäre. Aber wenn ich heute Durchhänger habe, werde ich stets von irgendjemanden ermutigt, sagt mir sicher jemand, es lohnt sich zu kämpfen.

Talentförderer wollen keine extremen Leistungen, sie wollen, dass jeder sein Glück findet. Anna (20), Gelsenkirchen

Finn: Über die Eltern-Schüle-Akademie habe ich meine Traum-Ausbildung gefunden

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Ich komme aus einfachen Verhältnissen und Schule ist für mich das Lästige am Praktischen. Meine Noten sind nicht immer die besten. Aber ich bin zielstrebig und handwerklich geschickt.

Zum Glück bin ich auf das „Ausbildungsheft“ der Talentmetropole Ruhr gestoßen, ich habe es noch heute (zum Beweis legt er es vor, die Red.), darin war eine Anzeige des Netzbetreibers „Westnetz“. Zwei Ansprechpartner von denen waren auch bei einer Eltern-Schüler-Akademie der Talentmetropole bei uns in der Schule. Da war ich mit meiner Mutter und hab sie angesprochen. Dann habe ich mich für ein Schülerpraktikum beworben.

Nach der ersten Woche war ich mir sicher: Das ist es. Ich war direkt verzaubert, durfte mich sogar mit einer komplizierten Aufzugschaltung beschäftigen! In der zweiten Woche hat auch der Ausbilder gemerkt, das passt mit uns. Er hat’s erklärt, ich hab’s gemacht, und die Hütte dabei nicht in Brand gesteckt. Mit der Zusage für einen Ausbildungsplatz als Elektroniker für Betriebstechnik bei Westnetz bin ich nach drei Wochen rausgegangen.

Meinen Abschlussprüfungen sehe ich jetzt viel gelassener entgegen. Ich bin so froh, dass ich weiß, wohin der Weg führt, kann kaum erwarten, dass die Ausbildung im August beginnt. Viele meiner Klassenkameraden wissen tatsächlich noch gar nicht, wie es für sie weitergeht. Dabei gibt es sicherlich für 99 Prozent da draußen den idealen Beruf. Man muss ihn nur finden.
Mich, hat mir der Ausbilder gesteckt, hätten sie ohne das Praktikum vermutlich nicht einmal zum Online-Bewerbungstest zugelassen. Finn (17), Mülheim

Youssef: Nach dem Talentcamp wusste ich genau, was ich wollte

Youssef (22) aus Essen: studiert Informatik in Gelsenkirchen
Youssef (22) aus Essen: studiert Informatik in Gelsenkirchen © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

2016 habe ich im Talentcamp einen Social-Media-Workshop belegt. Damals wusste nicht einmal, ob ich Abi machen wollte. Nach dem Camp wusste ich genau, was ich wollte. Wir haben da zusammen ein Computerspiel entwickelt, „Jump’n Ruhr“. Danach war klar, ich will Informatik studieren. Was genau im Camp mit mir passiert ist, kann ich nicht beschreiben. Aber jetzt bin ich im vierten Semester und studentische Hilfskraft. Und ziemlich glücklich, auch wenn’s nicht immer rund gelaufen. Youssef (22), Essen

Amelie:Sie haben mich fürs Ruhrtalente-Stipendium empfohlen

Amelie (18) aus Borken: macht gerade Abi in Velbert und danach ein Freiwilliges Soziales Jahr.
Amelie (18) aus Borken: macht gerade Abi in Velbert und danach ein Freiwilliges Soziales Jahr. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Nach dem Abi will ich Medizin studieren. Vorher mache ich ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Pflege an einer Kölner Klinik.

Auch bei mir hat alles mit einem Talentcamp begonnen. Meine Klassenlehrerin hat damals gemeint, das wäre etwas für mich. Es war wunderwunderschön. Die paar Tage haben so viel verändert in meinem Leben, mich auch als Persönlichkeit enorm gestärkt. Ich bin viel selbstbewusster geworden und nicht mehr so introvertiert wie früher. Ich habe im Camp erstmals erlebt, ich bin komplett okay, so wie ich bin.

Danach bin ich im Alumni-Programm weiter unterstützt worden, man hat mich sogar für das Ruhrtalente-Schülerstipendium des Landes empfohlen – und ich hab’s gekriegt!! Das ermöglichte mir eine Sprachreise nach Liverpool – eine unfassbar schöne Erfahrung – und einen ersten Einblick ins Humanmedizin-Studium zu Schulzeiten. Ohne hätte ich vielleicht nie gemerkt, dass das meine Leidenschaft ist. Sie haben mir auch einen Laptop finanziert, den hätte meine alleinerziehende Ma gar nicht bezahlen können. Ohne die Talentmetropole hätte ich meinen Weg nicht so leicht gefunden, viele Türen wären mir verschlossen geblieben. Amelie (22), Borken