Bochum. Für Lea beginnt am heutigen Mittwoch wieder die Schule – nach dreieinhalb Jahren Abwesenheit. Wie das Projekt „Unicus“ der 17-Jährigen half.

Lea war 13, als es nicht mehr ging. Sie sagt, sie weiß bis heute nicht, warum. Es gab kein Mobbing, kein traumatisches Erlebnis, keinen Todesfall in der Familie, keinen besonderen Stress mit den Lehrern („Manche mochte ich, andere waren die Hölle“). Selbst ihre Noten waren okay. Aber plötzlich war ihr der Schulbesuch unmöglich.

„Ich fühlte mich in der Schule total unwohl. Mir ist krass übel geworden, wenn ich nur daran gedacht habe“, erzählt die inzwischen 17-Jährige. Schon als Achtklässlerin wusste sie: Das geht nicht, einfach zuhause zu bleiben; in Deutschland gibt es seit 1919 eine allgemeine Schulpflicht. Daher verhandelte sie mit sich selbst: Heute bleibst du vier Stunden, dann darfst du heim. Aus den vier Stunden wurden rasch drei, dann zwei… Am Ende: Ging die Schülerin gar nicht mehr zum Unterricht. „Ich konnte einfach nicht“. Dreieinhalb Jahre lang. In diesem Juni hat sie „extern“, bei der Bezirksregierung, dennoch den Realschulabschluss gemacht – „dank Unicus“ wie sie sagt. Das Projekt der Bochumer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung St. Vinzenz kümmert sich seit drei Jahren um „Schulabsentisten“ wie Lea.

Pro unentschuldigtem Fehltag werden in NRW 80 bis 150 Euro Bußgeld fällig

Bundesweit sind geschätzt fünf Prozent aller Schulpflichtigen betroffen, allein im Regierungsbezirk Arnsberg, der unter anderem für das Ruhrgebiet zuständig ist, leiteten die Behörden 2019 Medienberichten zufolge knapp 8.800 Bußgeldverfahren gegen die Eltern schulabsenter Kinder ein, pro unentschuldigtem Fehltag werden in NRW 80 bis 150 Euro fällig. Ob ihre Mutter solche Bescheide erhielt? Lea erinnert sich auch daran nicht mehr. Ihr altes Ich, sagt sie, habe sie vergessen, abgelegt.

Folge (nicht Ursache!) ihrer Schulangst, erzählt das Mädchen, sei eine starke Depression gewesen. Lea isolierte sich komplett, traf niemanden, ging schließlich gar nicht mehr aus dem Haus. Wie sie den Tag verbrachte? „Mit nichts Gutem“, erzählt sie: „Schlafen, Serien gucken, Nachdenken.“ Worüber? „Schlimme Dinge.“ Die Mutter brachte ihre Tochter in eine psychiatrische Tagesklinik, nach acht Wochen vereinbarte Lea dort mit einem ihrer Lehrer zwei „Probetage“ in der alten Schule. Sie endeten mit zwei Panikattacken, „grauenvoll“, erinnert sie sich. Eine Familientherapeutin stellte schließlich Anfang 2021 den Kontakt zu „Unicus“ her.

Oft betroffen: „Künstlerisch begabte Kinder mit großer kognitiver Leistungsfähigkeit“

Teamleiter Kevin Fröhlich nennt „Unicus“ ein bundesweit einzigartiges Projekt (deshalb nannten sie es so); eines, das sehr viel mehr wolle, als nur „jemanden wieder fit zu machen für die Schule“. „Hier trifft man Gleichgesinnte, hier wird kein Druck ausgeübt, hier geht es nur darum, die Ressourcen, die in jedem stecken, hervorzuholen.“ Neun Monate mindestens bleiben die Teilnehmer in der Tagesgruppe. Montags bis freitags werden sie dort von vier Pädagogen und Pädagoginnen sowie einer Hauswirtschaftskraft betreut und individuell gefördert. Ziel ist die Wiedereingliederung in den normalen Schulalltag. Lea ist die erste Teilnehmerin, die den Schulabschluss direkt im Anschluss an die Gruppen-Zeit gemacht hat. Schüler und Schülerinnen aller Schulformen haben sie hier schon aufgenommen, „künstlerisch begabte Kinder mit großer kognitiver Leistungsfähigkeit wie Lea“ seien typisch für die Klientel, sagt Fröhlich. „Die halten unser System Schule nicht aus.“

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Bei aller Freude über den Abschluss ist Lea darum derzeit auch traurig. Denn nach anderthalb Jahren muss sie „Unicus“ nun verlassen. Mit einer Theatervorstellung wird der Abschied am Donnerstag (11.8., 18 Uhr) gefeiert: Lea spielt die Hauptrolle, als Sherlock Holmes wird sie in der „KoFabrik“ auf der Bühne stehen, wenn sich der Vorhang hebt. Ohne Angst, vor dem, was sie da draußen erwartet.

„Wir dürfen nicht Zehntausende Jugendliche einem Tagelöhner-Dasein überlassen“

Dabei war der Anfang bei „Unicus“ für sie ein sehr schwerer, sie verließ ihr Zuhause da ja schon gar nicht mehr, hielt Kontakt zu Außenwelt nur über das Internet. „Wir haben Lea zwei Hausbesuche abstatten müssen“, erzählt Teamleiter Kevin Fröhlich, „bevor wir sie überzeugen konnten.“ Tatsächlich gab Lea erst nach, als er der Jugendlichen (und ihrer Mutter mit deren Erlaubnis) das Wlan abstellte… Heute sagt Lea: „Ich bin so froh, dass es so kam, es war so wichtig für mich.“

Schulangst oder Sozialphobie, die häuslichen Rahmenbedingungen, Misshandlung oder pubertäres Protestverhalten, psychische Erkrankungen – es gibt vieles, was Kinder zu Schulverweigern machen kann. Doch die individuellen Gründe für Schulabsentismus interessieren bei Unicus wenig, betont Fröhlich. „Im Gründe sind sie oft recht ähnlich, oft eine Persönlichkeitssache“, meint er, „und es hat auch mit einer gewissen Hochsensibilität zu tun. Solche Menschen bringt unser Schulsystem oft an ihre Grenzen, Und wir konzentrieren uns darauf, ihnen zu helfen.“ Denn die Folgen des versäumten Schulbesuchs seien drastisch: Ein Schulabschluss ist Grundvoraussetzung, um Teil der Gesellschaft zu sein, Anerkennung zu finden. Jugendliche zerbrechen, wenn sie diese Anerkennung nicht finden.“

Angesichts der steigenden Zahl von Schulabbrechern (45.000 im Jahr 2020) mahnte kürzlich auch Frank Johannes Hensel, Caritas-Direktor im Erzbistum Köln: „Jeder vorzeitige Schulabbruch ist ein Drama für den jungen Menschen, die Gesellschaft und das Schulsystem.“ Er forderte mehr Hilfen vom Staat, man dürfe nicht Zehntausende Jugendliche einem „Tagelöhner-Dasein“ überlassen.

Die „Schuldfrage“ wird bei „Unicus“ nicht gestellt

Pädagoge Kevin Fröhlich leitet das „Unicus“-Team der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung St. Vinzenz in Bochum..
Pädagoge Kevin Fröhlich leitet das „Unicus“-Team der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung St. Vinzenz in Bochum.. © Anja Micke

Die „Schuldfrage“, die vor allem alleinerziehende Mütter schulabsenter Kinder oft umtrieb, stelle er nie, sagt Fröhlich. Er könne sogar Lehrer verstehen, die vor Schulverweigern kapitulieren. „Die sagen uns, nach zwei Jahren Corona haben sie genug Probleme mit denen, die da sind. Da könnten sie sich nicht auch noch um die kümmern, die nicht da sind.“

In der Bochumer Tagesgruppe geht es vor allem darum, die Stärken der Teilnehmer zu entdecken und fördern. Das, was ein Jugendlicher „mitbringe“, was ihm helfe, seine Probleme zu überwinden. Auf dem Stundenplan stehen daher nicht (nur) Mathe, Deutsch und Englisch. Sondern zudem: Künstlerische Projekte oder andere Kreativangebote, Übungen zum Aufbau von Kooperation und Vertrauen sowie soziales Kompetenztraining– und immer wieder: Einzelgespräche. Auch die Eltern werden eingebunden, erhalten Hilfe bei der Erziehung.

„Es ist peinlich, das zu sagen. Aber sogar Mathe hat mir wieder Spaß gemacht“

„Total verloren, traurig und verzweifelt“ sei ihm Lea anfangs vorgekommen, wie eine junge, sehr intelligente Frau, die sich fragte: „Was soll ich nur hier in dieser bösen Welt?“, erinnert sich Fröhlich. Doch dann: habe sie für sich entschieden, „Unicus tut mir gut. Hier ist ein Ort, wo ich gesehen werde und wo andere sind, die mir helfen, mein Ziel zu erreichen – und sie war dabei.“ Das Problem von Schulabsentismus sei ja gerade, dass die Betroffenen unsichtbar seien, „eben nicht da“, abwesend (absent). Lea, betont Fröhlich, habe „unglaublich viel“ geleistet, eine tolle Entwicklung gemacht. „Wir hatten Glück, dich begleiten zu dürfen“, sagt er ihr zum Abschied. „Ich hatte Glück, Sie zu treffen“, entgegnet Lea. „Mir geht es endlich wieder gut, ich bin glücklich jetzt, ich fühle, ich bin irgendwo angekommen.“ „Steh auf, geh raus! Hab Mut, um Hilfe zu bitten!“, rät sie heute anderen mit Schulangst. „Es ist so ein gutes Gefühl, das zu erreichen, was man erreichen wollte.“

Drei schriftliche und sechs mündliche Prüfungen hat Lea für den Realschulabschluss bestanden, in Englisch erhielt sie sogar eine glatte 1 für ihre Leistung. „Es ist peinlich, das zu sagen“, berichtet sie, „aber sogar Mathe hat mir wieder Spaß gemacht.“ Das Lernen fiel ihr leicht, ihr gefalle es nun „Wissen in sich hineinzuschaufeln“. Deshalb macht sie weiter: Der heutige erste Schultag nach den Ferien ist auch ihr erster – nach dreieinhalb Jahren. Am Ottilie-Schoenewald-Weiterbildungskolleg strebt die 17-Jährige nun ihr Abitur an. Und Kevin Fröhlich ist sicher: „Lea rockt das!“

>>> INFO Unicus – Tagesgruppe für Schulabsentisten

Unicus ist ein Projekt der Bochumer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung St. Vinzenz (in freier Trägerschaft) und versteht sich als Lern- und Übungsfeld, in dem sich die Teilnehmer mit ihrem Schulabsentismus auseinandersetzen. Die Teilnehmerzahl ist auf zehn Kinder und Jugendliche (Aufnahmealter: 12 bis 16 Jahre) begrenzt, zum Schulstart sind wieder Plätze freigeworden.

Von 9 bis 15 Uhr werden die Teilnehmenden von vier Pädagogen/Pädagoginnen betreut und gezielt individuell sowie in der Gruppe gefördert; nur 1,5 Stunden sind klassische „Lernzeit“ für die Hauptfächer. Ziel ist die (Re-)Integration in die Schule, in der Regel nach neun Monaten. Es wird gemeinsam gefrühstückt und Mittag gegessen; kleine Haushaltsdienste gehören zu den täglichen Verpflichtungen.

Das Jugendamt übernimmt in der Regel die Kosten. Kontakt und weitere Information: https://www.vinzenz.org/unicus/ sowie: Kevin Fröhlich (Teamleitung) 0234 91 31 371,