Essen. Kinder von Drogenabhängigen, Alkoholikern oder psychisch Kranken werden oft auch krank. Als erstes Bundesland will NRW dem nachhaltig vorbeugen.

Sie wissen nie, was sie erwartet, wenn sie heimkommen: Kinder psychisch oder suchtkranker Eltern. Das ist das Schlimmste, sagt Brigitta Lökenhoff, „diese Ungewissheit, diese Unzuverlässigkeit.“ Viele betroffene Jungen und Mädchen, das weiß man längst, werden als Erwachsene ähnliche Erkrankungen entwickeln wie ihre Mütter oder Väter, werden selbst depressiv oder drogenabhängig. In NRW soll ihnen nun geholfen werden, gesund und so unbeschwert wie möglich groß zu werden – in dem man dauerhafte Versorgungsstrukturen für Betroffene schafft. 460.000 Euro steckt das Land dazu in ein Präventivprogramm mit langem Titel, kurz: KIPS. Gefördert wird es zudem von den Krankenkassen. Lökenhoff ist als Referentin bei „Bella Donna“, der „Landesfachstelle Frauen und Familie der Suchtkooperation NRW“, Leiterin des Projekts – das anderen Bundesländern durchaus als Blaupause dienen soll.

KIPS-Koordinatorin Michaela Gerritzen (l.) und Projektleiterin Brigitta Lökenhoff in einem Gruppenraum bei Bella Donna:  An der Essener Suchtberatungsstelle für Frauen und Familie ist das neue Landesprogramm angesiedelt.
KIPS-Koordinatorin Michaela Gerritzen (l.) und Projektleiterin Brigitta Lökenhoff in einem Gruppenraum bei Bella Donna:  An der Essener Suchtberatungsstelle für Frauen und Familie ist das neue Landesprogramm angesiedelt. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Fast jedes vierte Kind, hatte NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann bei der Vorstellung des zunächst auf vier Jahre angelegten Programms erklärt, wachse mit einem psychisch erkrankten oder suchtkranken Elternteil auf. Lökenhoff, promovierte Soziologin, bezweifelt, dass diese Zahl „valide“ ist. „Die Dunkelziffer“, glaubt sie, „liegt deutlich höher.“ Betroffene, bestätigt ihre Kollegin, die Sozialarbeiterin Stefanie Böcker, würden in der Öffentlichkeit nur nicht wahrgenommen. „Die Probleme werden als Familiengeheimnis behandelt.“ Eltern trauten sich selten, um Hilfe zu bitten; sie fürchteten, dass man ihnen die Kinder „wegnähme“, sobald sie eingestehen, dass sie überfordert sind.

„Beratungshemmnisse abbauen“

In Essen, wo Bella Donna sitzt, funktioniert laut Böcker die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, konnten solche „Beratungshemmnisse“ inzwischen abgebaut werden. Anderswo noch nicht. KIPS soll auch das ändern. Vor allem aber zielt das Programm auf Vorbeugung sowie „die konkrete Umsetzung nachhaltiger Angebote zur Stärkung der Resilienz“. Was sperriger klingt, als es gemeint ist. Und vor Ort BabyBel heißen kann. Oder MiniBel oder MaxiBel – wie bei Bella Donna die verschiedenen Gruppen für unterschiedlich alte Kinder.

Gruppen, in den „getobt, gegessen, gelacht, gequasselt und gespielt“ wird. In denen die Kinder suchtkranker Eltern einfach mal Kind sein, in denen sie aber auch über ihr schwieriges Zuhause sprechen dürfen; erfahren, dass sie damit nicht allein sind. Es sei „erschreckend“, erzählt Erzieherin Pia Springenberg, wie viel Verantwortung oft auf kleinen Schultern laste. „Diese Kinder müssen viel zu früh in die Erwachsenenrolle schlüpfen, die sorgen nicht nur für ihre noch jüngeren Geschwister. Die kochen morgens auch der Mama den Kaffee, damit die in die Gänge kommt.“

Viele kommen selbst aus „broken homes“, kaputten Familien

Wobei sich die meisten Mütter (und auch die Väter) tatsächlich große Mühe gäben. „Das erste Kind ist für v

Stefanie Böcker ist als Sozialarbeiterin schon lange in der ambulanten, flexiblen Hilfe bei Bella Donna aktiv.
Stefanie Böcker ist als Sozialarbeiterin schon lange in der ambulanten, flexiblen Hilfe bei Bella Donna aktiv. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

iele Suchtkranke häufig ein Grund, ihr Leben zu ändern“, sagt Böcker. „Stabile Substitution oder Abstinenz“ sei dafür zwingende Voraussetzung. „Aber sie wollen ja raus aus der Abhängigkeit, sie wollen das mit dem Baby richtig gut machen...“ Nur wissen sie oft nicht, wie. Sie kommen meist selbst aus „broken homes“, aus kaputten Familien, haben stete Zuwendung nie erlebt. Sie leben oft isoliert und in Armut, immer in Sorge und unter ständigem Druck, fürchten die Stigmatisierung. Nicht selten müssen sie die Kinder zudem allein erziehen, vielleicht auch, weil der Partner im Gefängnis sitzt – „mit illegalen Drogen multiplizieren sich die Probleme“, sagt Lökenhoff. Stefanie Böcker erinnert sich an eine junge Mutter, die nie mit ihrem Sohn sprach, selbst beim Wickeln nicht. „Babysprache fand sie blöd“, erzählt die Sozialarbeiterin. Sie erklärte der Frau, wie wichtig Kommunikation sei, machte ihr vor, wie’s geht.

Pia Springenberg, Erzieherin in der Flexiblen Hilfe, kommt aus der sozialen Brennpunkt-Arbeit.
Pia Springenberg, Erzieherin in der Flexiblen Hilfe, kommt aus der sozialen Brennpunkt-Arbeit. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

„Intuitiv war da gar nichts…, bei Konsumenten illegaler Drogen liegt oft eine Bindungsstörung vor.“ Am Ende: brabbelten, sangen und strahlten Mutter und Sohn um die Wette.

Formal Projektförderung, aber konzeptionell auf Nachhaltigkeit angelegt

Bella Donna ist „Koordinierungsstelle“ für das KIPS-Programm und Michaela Gerritzen die Ansprechpartnerin vor Ort. Bei ihr können sich seit Ende Mai Einrichtungen der Sucht- und Jugendhilfe sowie der Gemeindepsychiatrie in ganz NRW um eines (oder auch alle) der insgesamt elf angebotenen Hilfs-„Module“ bewerben. Die, die schon seit Jahren Hilfen anbieten, wie die, die sie erst neu schaffen wollen. Von der Beratung für „blutige Anfänger“ (Wie werde ich freier Jugendhilfeträger?) über Sachmittel und Personal-Qualifizierungsmaßnahmen bis zur Sockelfinanzierung für ein bestehendes gutes Angebot reicht das Spektrum. „Das Interesse ist riesig – und der Bedarf groß“, berichtet Gerritzen. Das hätte sich nicht zuletzt in der Pandemie erneut gezeigt, „die unsere Familien doppelt und dreifach hart traf“. Die Fälle von Kindeswohlgefährdungen, die Zahl der „Inobhutnahmen“ hätten deutlich zugenommen.

Formal nennt sich das alles „Projektförderung“, tatsächlich geht es aber um viel mehr: „Diese Art von Prävention muss dauerhaft verankert sein, muss regelfinanziert werden“, sagt Lökenhoff. „Das Fehlen von Verlässlichkeit, das psychisch und insbesondere suchtkranke Familien prägt, darf sich nicht in den Hilfsangeboten fortsetzen. Es wäre ein Verschwendung von Geldern und Ressourcen, wenn mühsam aufgebaute Beziehungen nach ein, zwei Jahren wieder gebrochen werden.“ KIPS soll darum nur ein „Zwischenschritt“ sein, auf politischer Ebene vor allem „Brainpool“ und „Argumentationshilfe“: So könnte es funktionieren!

Pia Springenberg hat jüngst zwei Geschwisterkinder, die sie lange nicht mehr gesehen hatte, abgeholt, um sie zum Gruppentreffen zu fahren. „Die beiden standen am Straßenrand, als ich kam – und haben mich gefeiert, als wäre ich die Karnevalsprinzessin“, erzählt sie.

>>>>INFO Das Landesprogramm

Offiziell heißt es: „KIPS Prävention NRW: Kinder psychisch kranker und suchtkranker Eltern stärken“. Ansprechpartner für Interessierte ist: Koordinator Michaela Gerritzen. Die nächste Antragsfrist endet am 31. Oktober.

Weitere Informationen unter: https://www.belladonna-essen.de/kips-praevention-nrw/