Gelsenkirchen. Die Fußgängerzone von Gelsenkirchen, die Bahnhofstraße steht vor den nächsten Schließungen. Sie war einmal eine Prachtstraße. Lange her.
Jeden Dienstagnachmittag ist in dem kleinen City-Café „Schloss Stolzenfelz“ wieder der Sommer von ‘77. Der Inhaber und Berufsmusiker Norbert Labatzki spielt und singt selbst: „Moviestar“, „Love is in the air“, „Dancing Queen“, vieles mehr, und so macht er seine Gäste glücklich. Ältere Herrschaften natürlich, ihre Musik ist ewig her, manche noch länger: „Let’s twist again.“ Sie tanzen, manche strahlen. Wo ist nur die Zeit geblieben? Ach, wie schön war Gelsenkirchen.
Mit den entmutigten Augen von heute betrachtet, gibt es aus dem Gelsenkirchen der 60er- und 70er-Jahre unglaubliche Bilder. Frauen im Pelz beim Einkaufsbummel. Laufstege für Modenschauen in der Fußgängerzone. Den Herrenausstatter mit Springbrunnen und Marmor im Eingang. Die „Weka“, das legendäre Kaufhaus. „Martini-Bar“, Piano-Haus, Apollo-Kino, Feinkost „Tischlein Deck dich“ . . . Heute findet man den Filialisten „Lecker Lecker“ gleich zweimal, zwei Tüten knapp abgelaufener Chipsfrisch kosten dort zusammen einen Euro. Noch weniger als andernorts. Sogar weniger als bei „Lecker Lecker“ in - Buer.
„Diese Nachrichten kommen zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt“
Der Niedergang der Bahnhofstraße ist viel beschrieben worden. In diesem Frühjahr schlagen weitere schlechte Nachrichten ein. Der Kaufhof schließt dieser Tage, Primark zum Jahresende - zwei riesige Leerstände dann, die sich in der Einkaufszone fast gegenüberliegen und sie entschlossen unterbrechen werden. Vielleicht 100 Meter weiter, bei Schuh Reno, steht im Fenster „Wir schließen“ - ach nein, es hängt bereits „Geschlossen“. Noch mehr dunkle Fenster demnächst, die einander ratlos anschauen. Wobei im Rathaus unter der Hand namhafte Nachfolger genannt werden. Doch unterschrieben ist nichts, was die Stimmung heben könnte.
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Es ist die Stadt, die nach jedem Fortschritt einen Rückschlag erleidet, die sich abstrampelt, ohne die Wende nach oben zu schaffen. Die sich an Schalke 04 klammert, weil Schalke 04 immer da ist, anders als das meiste in Gelsenkirchen: „Schalke hilft“ steht über dem Eingang der Gaststätte „Friesenstube“. Ist es jetzt der eine Rückschlag zuviel? „Diese Nachrichten kommen zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt“, sagt Jens von Lengerke von der Industrie- und Handelskammer: Man müsse „den Trading-down-Effekt aufhalten“. Der besagt: Sinkendes Niveau führt zu weniger Kunden führt zu Leerständen führt zu: Teufelskreis.
Es gibt auch Wohlstand in Gelsenkirchen - aber nicht in der Mitte
Ebenso resigniert wie gleich klingen die Zufallsstimmen von Passanten: „Einfach nur traurig“ . . . „Was gibt es denn noch in Gelsenkirchen?“ . . . „Hier kriegt man ja nichts mehr“ . . . Beim Betreten von Primark sagt die Frau vor mir zum Wachmann: „Wie lange habt ihr denn noch auf? . . . Gelsenkirchen war so schön, als ich Kind war.“
Freilich kann man eine Großstadt von 260.000 Menschen nicht auf ein Bild minimieren. Um es ein- für allemal zu sagen: Es gibt ein schönes Gelsenkirchen. Es gibt auch Mittelstand und Wohlstand in Gelsenkirchen - nur nicht in der Mitte. Die Alteingesessenen sich in der Bahnhofstraße nicht mehr heimisch“, sagt einer, der sich auskennt: „Die Migration, vielen Menschen macht sie Angst.“
„Ich finde es sehr spannend im Moment“
Vielleicht muss man aus der schwierigen Mitte heraus, um das Positive zu finden. Gelsenkirchen-Ückendorf, vor 100 Jahren das herrschaftliche, das Direktoren- und Besitzbürgerviertel: Hier lag der erste Abwasserkanal der Stadt, leuchtete das erste elektrische Licht. Die Gründerzeit-Fassaden sind noch da, nur sehr heruntergekommen. Zuletzt hat die Stadt Häuser saniert und Besitzer bewegt, anzupacken. Nun geht es wieder bergauf. Ein kleines bisschen.
„Es ist ein bisschen mehr als ein kleines bisschen“, sagt Peter Köddermann, der Geschäftsführer des Vereins „Baukultur NRW“, angesiedelt auf dem nahen Zechengelände von Rheinelbe. Es sei gelungen, die örtlichen Akteure zusammenzubringen und neue Projekte anzustoßen. Kultur. Wohnen. Soziales. Bauen. „Gelsenkirchen mag eine Menge Probleme haben, aber ich finde es sehr spannend im Moment.“
„Die Wirtschaftsförderung war begeistert: So etwas haben wir noch nicht“
Ückendorf. Oder die Beteiligung an der Gartenausstellung 2027, die diskutieren wird, wie Städte grüner werden. Und natürlich muss die Innenstadt sich grundsätzlich wandeln. Weg vom alleinigen Handelsplatz. Wandel statt Handel sozusagen. Das positive Beispiel lokalisiert Köddermann in - Gelsenkirchen-Buer, wo einheimische Bürger das Konzept erfanden und erfolgreich umsetzen, ein leeres Kaufhaus durch gemischte Nutzung als „Linden-Karree“ wiederzubeleben.
Als Mann der Baukultur denkt Köddermann in Jahrzehnten. Gülay Kaya denkt bis Jahresende. Bis dahin muss ihr gerade eröffnetes „Moon Baby Spa“ in einer Nebenstraße der City sich tragen, denn die Mietsubvention aus dem „Sofortprogramm Innenstadt“ des Landes läuft dann aus. „Ich bin zuversichtlich, sonst hätte ich es nicht gemacht“, sagt die 47-Jährige: „Ich verteile jetzt erstmal Zettel beim Frauenarzt und beim Kinderarzt.“
„Moon Baby Spa“ bietet Hydrotherapie für Säuglinge, in kleinen Wannen mit Strömung können sie chillen, und ihre Motorik soll es auch fördern. „Die Wirtschaftsförderung war begeistert und hat gesagt, so etwas haben wir noch nicht. Es ist ja keine Fußpflege oder Nagelpflege wie jedes zweite Geschäft hier“, sagt Kaya.
Bei Rabatten von 60 Prozent stehen lange Schlangen vor den Kassen
Es bräuchte natürlich viele Gülay Kayas, um wirtschaftlich ein geschlossenes Kaufhaus aufzuwiegen. Das stirbt jetzt: Rolltreppen sind verhängt und verbarrikadiert, im Untergeschoss ist die Leere gut ausgeleuchtet. Beim Rabatt-Stand von „-60% auf den ausgezeichneten Preis“ steht immer eine lange Schlange vor den zentralen Kassen. Längst kannibalisiert sich der Kaufhof: An Verkaufsvitrinen der Kosmetikabteilung hängt ein Schild „Verkauft. Abholung 19.6.“
Im seinem Café macht Musiker Norbert Labatzki kurz eine Pause. Draußen sitzend: „Die Älteren sagen, oh Gott, was ist aus Gelsenkirchen geworden?“ Drinnen spielend: Und die Sonne geht auf. „Hey Amigo Charlie Brown“, „Beautiful Sunday“, „Ich hab nen Bungalow in Santa Nirgendwo“. 22 Veranstaltungen stemmen die Brüder Labatzki und ihr ehrenamtliches Team allein in diesem Monat. Bis Jahresende muss „Schloß Stolzenfelz“ sich tragen. Die Mietsubvention läuft aus.