Ruhrgebiet. Ein Sommernachtstraum: 200.000 Menschen in 22 Städten feierten erneut die Nacht der Industriekultur. Schlote und Schlacke in nostalgischem Licht.
Dies ist die Nacht! Das Ruhrgebiet legt seine 21. Extraschicht ein, aber eigentlich ist es ein Feierabend. Rund 200.000 Menschen färben die Orte der Industriekultur in Farbe und Feuer, sie tanzen in Häfen und auf Hochöfen, es klingen Gitarren in Konvertern und Brassbands in der Kohlenwäsche – das ganze Revier in noch mal neuem Licht. Was soll man dazu sagen, Pott-passender als die Veranstalter das schon vorher ahnten, geht es nicht: „Boah!“ und noch mal „Boah!“
Die „Nacht der 1000 Feuer“ war eigentlich ein Arbeitskampf und liegt genau 30 Jahre zurück. Aber wie damals die Wut kochte, kochen bei Feuerwerken, Feuerrädern, Feuerschluckern an diesem Abend die positiven Emotionen hochofen-hoch. Es sind ähnlich viele Menschen, die mit dem Ende von Kohle und Stahl ihre Arbeitsplätze verloren haben in der Region, die sie nun hochleben lassen. „Das ist unsere Heimat!“, ruft Arnhild Burckhardt und macht eine weite Geste über Phoenix-West. Die 73-Jährige, Ehefrau eines Kruppianers und in Hoesch verliebt, steht auf einem Gasrohr über Dortmund, nie hat man jemanden so zärtlich reden hören über Gichtgas und Schlacke.
Nacht der Industriekultur: Die Extraschicht in Bildern
1/106
Der Himmel könnte nicht blauer sein, die Nacht nicht bunter
Frau Burckhardt ist einer der vielen Fremdenführer und -innen, die am Samstag Appetit machen sollen auf noch mehr Ruhrgebiet; „sie sollen ja animiert werden, dass sie mal wiederkommen“. Tatsächlich führen sie alle weniger Fremde, sondern Leute von hier; Arnhild Burckhardt findet, es sei „wichtig, dass man weiß, wo ist man und was war da“. Hier war Stahlkochen, rauchende Schlote, es regnete Briketts, Sie wissen schon… Aber jetzt, wo die „Nacht der Industriekultur“ noch ausklingender Sommertag ist, könnte der berühmte Himmel über der Ruhr blauer nicht sein.
Und die Nacht nicht bunter. Dieses neue Licht für alte Gemäuer, es ist lila an Bottrops Malakoffturm, blau an Bochums Bergbaumuseum, gelb an Hattingens Henrichshütte, die Schutzhelme für unebene Wege durch alte Industrie tragen sowieso alle Farben. Drohnen malen Schmetterlinge an den Himmel, Laser winden Strahlen um Fördergerüste, LED-Fackeln wirbeln durch Maschinenhallen. Leuchtende Märchengestalten stelzen durch Mülheim, in Duisburg lassen Pyrotechniker die Stunde Null erblühen, in Dortmund tanzen virtuelle Kronleuchter Walzer.
Extraschicht im Ruhrgebiet: 44 Spielorte in 22 Städten
Jugendliche schlagen Rad zwischen vor Zahnrädern, Musiker trommeln auf Leitern, auf Dinslakens Zeche treffen sich Akrobaten im Hawaiihemd mit dem Bergmannschor. Zollvereins Doppelbock trägt kurze Hosen, weil sich hier alles um Fußball dreht. Es gibt Kopfhörerpartys, Krönchenführungen und Origami, Mädchen binden Blumenkränze und Helfer Lichterketten um altes Eisen. Dichter liefern Stegreif im Stahlbetrieb, es wird geturnt unter Turbinen, es erstrahlen Lampen in Lagerhallen…
Das alles geht ja nur im Ruhrgebiet. Auf Zechengeländen und Brauereitürmen, in Flugzeug-Hangars und Straßenbahndepots, auf Hütten und in Schächten, in Zinkfabriken, Drehereien, Gasometern, Schiffshebenwerken. Man kann sich das nicht malen, 44 Spielorte in 22 Städten, nur ausmalen mit neuen Bildern. Und Abenteuern: Wie viele haben überstundenlang angestanden, um das Spektakel von oben zu sehen; sie klettern auf Kokereien, Hochöfen und Fördertürme, sie sitzen aber auch im Gras und trinken Köpi, Fiege oder Bergmann, und in Dortmund sitzen sie mit ihren Rucksäcken mitten in Hundertwassers bunten Häusern – das ist Kunst im Industriedenkmal.
Die Nacht der Industriekultur: ein Sommernachtstraum!
Ein Sommernachtstraum! Den man doppelt sieht durch wahrscheinlich 198.000 Handykameras, was immerhin auch denjenigen hilft, die nur in der achten Reihe stehen. So bleiben auch Fotos von der Reise durch die Nacht und ungezählte Selfies: Ich mit Zuckerwatte unterm Förderturm. Da soll noch einer sagen, man soll das Ruhrgebiet nicht romantisieren – aber wenn es doch romantisch ist! Ein Dortmunder auf Zeche Zollern trägt auf seinem T-Shirt das Motto des Abends: „Sensation of new experiences“, Empfindung neuer Erfahrungen.
Als alles Licht erloschen ist, leuchtet eine goldene Mondsichel den Menschen heim. Am Förderturm bleibt eine leere Flasche Bier zurück. Auf dem Etikett hat das „Brauwerk Schacht 8“ eine Frage: „Hömma somma nomma?“ Klar, 1. Juni, nächstes Jahr!
Extraschicht 2023: Die schönsten Bilder aus unseren Städten
Sie haben vermutlich einen Ad-Blocker aktiviert. Aus diesem Grund können die Funktionen des Podcast-Players eingeschränkt sein. Bitte deaktivieren Sie den Ad-Blocker,
um den Podcast hören zu können.