Gelsenkirchen-Hassel. Zum ersten Mal nahm die Zeche Westerholt im Gelsenkirchener Norden am Festival „ExtraSchicht“ teil. Was das Spektakel so magisch machte.
Mit 83 Jahren legte er noch einmal eine echte Extraschicht ein. Und dafür hatte Helmut Wohlleben die wohl längste Anreise in Kauf genommen. Über 700 Kilometer legte der Freiburger mit der Bahn zurück, um im Norden von Gelsenkirchen die 21. Nacht der Nächte mitzufeiern, das spektakuläre Fest der Industriekultur. Und zwar genau an dem Ort, an dem der Junge aus dem Schwarzwald einst im Alter von 15 Jahren erstmals als Bergbaulehrling unter Tage einfuhr.
Die Neue Zeche Westerholt auf der Stadtgrenze zwischen Hassel und Herten bot in diesem Jahr erstmals die charmante Kulisse für die „ExtraSchicht“. Die attraktiven Gebäude auf dem weitläufigen Gelände gaben am Samstag Kunst, Tanz, Musik und Lichterspielen ein fulminantes Forum. Die Menschen strömten vom frühen Abend bis spät in die Nacht zur Zeche, um dieses historische Stück Bergbaugeschichte in neuem Licht erstrahlen zu sehen. Viel gehörtes Fazit: „Großartig!“ Die Aufforderung im Programmheft lautete: „Gönnt Euch!“ Das taten die Fans bis weit nach Mitternacht unter der leuchtenden Mondsichel.
Farbige Papiervögel erinnern ans Gelsenkirchener Rubug-Festival
Vor dem markanten Pförtnerhäuschen im Kauenhof wartet ein Mann in klassischer Bergmannskluft auf die Besucher, spricht sie an, wenn sie sich noch suchend umschauen. Verweist sie an den Treffpunkt, wo die unterschiedlichen Führungen starten, mal durch die benachbarte Meistersiedlung, mal hinter die Kulissen. „Und da vorne, da geht es zu den Kunstausstellungen“, zeigt er mit dem Finger auf die Kauengebäude. Ob er hier selbst auch mal eingefahren ist? Ekki Eumann lächelt. In Wirklichkeit ist er Schauspieler im renommierten „Mondpalast“ von Wanne-Eickel und spielt nun mit Witz den Pförtner: „Ich liebe die Extraschicht und staune, wie viel Programm hier auf Westerholt geboten wird.“
Und das wurde bestens angenommen. Der attraktive Rundgang durch die Schwarz- und Weißkaue zum Beispiel, durch die Werkstätten und Verwaltungsräume. Da trafen die Besucher in der dunklen „Neon Light Hall“ auf bewegte Videokunst, auf Installationen und knallbunte Malerei des Trios Adnan Kassim, Ulle Bowski und Catronic. Da flatterten farbige Papiervögel direkt unter den unterschiedlich angestrahlten Körben in der Kaue, eine schöne, poetische Erinnerung ans Rubug-Festival 2022.
Im Lichthof steppt der Bär und tanzt das Licht
Überraschungen an jeder Ecke: Im Lichthof steppte der Bär, beziehungsweise eine Stepptanz-Truppe in Bergmannskluft. Lichter tanzten in der faszinierenden Show „Lichtspielend“. Die Künstlerinnen und Künstler von „Up to dance“ mischten sich immer wieder in fantastischen Kostümen unters Publikum.
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Arbeiten der beiden großen Ruhrgebietskünstler Alfred Schmidt und Many Szejstecki stießen auf staunende Bewunderung. Besonders die Videoinstallation „More Many“ in der Unternehmerkaue mit ihren magischen 3-D-Projektionen, die die Zuschauer mitnahm auf eine virtuelle, kunstvolle Grubenfahrt. Und dazwischen immer wieder nostalgische Erinnerungen an eine längst vergangene und bei vielen Menschen doch unvergessene Ära. Selten wurde so viel über Väter und Großväter geredet wie bei der „ExtraSchicht“.
So sieht es heute bei „Hempels überm Sofa“ aus
Wie es heute „Bei Hempels überm Sofa“ aussieht, dokumentierte die Ausstellung „Kunst aus den Quartieren“. Menschen aus Hassel, Westerholt und Bertlich präsentierten, welches Bild warum bei ihnen im Wohnzimmer hängt. Weil es zum Beispiel aus dem Sperrmüll gerettet wurde oder weil es schon seit vier Generationen im Familienbesitz ist.
Im Kauenhof, wo Cocktails und Currywurst, Bier und Pizza serviert wurden, bespielten drei Bands die große Bühne, DJ’s heizten zusätzlich ein, eine Show mit atemberaubender Fahrradakrobatik begeisterte.
Und wie gefiel dem Freiburger Besucher Helmut Wohlleben das Wiedersehen mit seinem allerersten Arbeitsplatz, für den ihm damals das Arbeitsamt die Zugfahrtkarte und fünf Mark in die Hand gedrückt hatte? „Sehr gut, ich habe vieles wiedererkannt, vieles war neu.“ Und der Mann, der in Bertlich auch seine Frau kennengelernt hat („Wir sind seit 60 Jahren verheiratet“) lacht herzlich: „Nur Bauchtänzerinnen, die gab es damals in der Kaue nicht.“