Bochum. Wer Zöliakie hat, muss das Klebereiweiß Gluten meiden. Doch das steckt nicht nur in Getreide… Kein Grund zur Panik, sagen zwei kleine Betroffene.
Samstags, wenn der Papa beim Bäcker um die Ecke Brötchen fürs Familien-Frühstück holt, dürfen seine Töchter an der Tüte schnuppern. Essen dürfen Marie und Mathilda die Brötchen nicht, nicht einmal einen kleinen Bissen probieren. Weizenmehl macht sie krank; genauer gesagt: das Klebereiweiß Gluten, das in Weizenmehl enthalten ist (genau wie in Roggen, Dinkel, Hafer und Gerste, Emmer oder Urkorn, Fertiggerichten, Nudeln, Pizza, Schokolade, Gummibärchen ...). Marie und Mathilda haben Zöliakie. Aber: „Jetzt keine Angst kriegen“, sagt Marie, 11, „mit Zöliakie kann man sehr gut leben.“ Für sie und ihre Schwester gebe es samstags ja ebenfalls Brötchen, nur eben ohne Gluten. „Die riechen nicht so gut“, erklärt Mathilda, ebenfalls 11, „schmecken aber auch.“
Zöliakie ist keine Allergie und keine Unverträglichkeit, wie es oft heißt. „Es ist eine Autoimmun-Erkrankung des Darmes, eine Entzündungsreaktion nach dem Kontakt mit Gluten“, erklärt die Kindergastroenterologin und Privatdozentin Dr. Anjona Schmidt-Choudhury, Oberärztin an der Universitätskinderklinik des Katholischen Klinikums Bochum. Bereits kleinste Mengen Gluten können bei Betroffenen die Dünndarmschleimhaut schädigen und Entzündungen hervorrufen, in deren Folge sich die Darmzotten zurückbilden. Folge: Ihr Körper kann nicht mehr genügend Nährstoffe aufnehmen.
Die Symptome sind völlig unterschiedlich
Bei Mathilda fiel es auf, da war das Mädchen zwei. „Sie hatte einen total dicken Bauch, blieb unter den Wachstumskurven, nahm irgendwann sogar ab statt zu“, erzählt Mutter Esta. Sie bemerkte das rasch, obwohl sie wusste, dass Mathilda als Frühchen aufzuholen hatte gegenüber Gleichaltrigen. Doch Mathilda ist Drilling, und Schwester Marie wie Bruder Paul – ebenfalls Frühchen – „entwickelten sich prächtig“. Die Diagnose stand „ziemlich flott“, erinnert sich Mathildas Mutter.
Da erbliche Faktoren bei Zöliakie eine Rolle spielen, ließ die Bochumer Familie auch die beiden anderen Kinder testen. Paul ist gesund, Marie, Mathildas eineiige Schwester, ist ebenfalls betroffen, obwohl damals bei ihr keine Symptome auffielen. „Typisch“, sagt Schmidt-Choudhury. „Zöliakie äußert sich ganz unterschiedlich. Bei manchen mit schlimmen Bauchschmerzen nach Gluten-Aufnahme, andere merken gar nichts.“ Man weiß nicht einmal genau, wie viele Menschen bundesweit unter Zöliakie leiden, Schätzungen gehen davon aus, dass es einer von 200 oder gar einer von 100 Menschen ist, „einschließlich der verkannten Fälle, die Dunkelziffer ist sehr hoch“, erklärt die Ärztin.
Mutter: Die Anfangszeit war wirklich hart
Entdeckt wird Zöliakie meist im Kindesalter. Wenn Sohn oder Tochter nicht wachsen, oft Verstopfung, einen Blähbauch oder „matschigen Stuhl“ haben, wenn sie unerklärlich blass, misslaunig oder quengelig sind, wenn die Pubertät verzögert eintritt – dann sollten Eltern mit ihrem Kind zum Arzt, „am besten zu einem, der spezialisiert ist, einem Kindergastroenterologen“, so Schmidt-Choudhury. Im Blut von Zöliakie-Kranken lassen sich bestimmte Antikörper finden, bei eindeutigen Symptomen reicht das für die Diagnose. In weniger eindeutigen Fällen ist eine ambulante „Dünndarmzottenbiopsie“ nötig: Über ein „Gastroskop“, werden dazu Proben im Darm entnommen.
Für Maries und Mathildas Familie war die Diagnose ein Schock. „Ich hatte noch nie zuvor von Zöliakie gehört“, erinnert sich Vater Martin, „die Anfangszeit war wirklich hart“, sagt auch seine Frau. „Wir hatten sehr viel zu lernen, Backen mit glutenfreiem Mehl etwa ist eine echte Herausforderung.“ Für betroffene Familien sei nach der Diagnose eine umfassende Ernährungsberatung entscheidend, erläutert Schmidt-Choudhury. Selbst die Kontamination von glutenfreien Lebensmitteln oder (Koch-)Geschirr mit dem Klebereiweiß müsse vermieden werden.
Esta und Martin H. befassten sich intensiv mit dem Thema („Wir haben alle Ratgeber und Kochbücher aufgekauft“), auch Großeltern und Tanten besuchten Schulungen. „Es gab anfangs ein paar Unfälle“, räumen die Drillings-Eltern ein, „Stichwort Grießbrei“. „Wir mussten uns ja ganz neu organisieren, aber wir haben das ziemlich schnell hinbekommen. Zuhause. Das eigentliche Thema ist das Umfeld, Kindergarten, Schule, Urlaub, Geburtstage bei Freunden, auswärts essen...“
„Alles kostet mindestens doppelt, manches dreimal soviel“
Für Marie und Mathilda selbst war die Umstellung auf glutenfreie Kost „kein großer Akt“. Sie waren ja von Beginn an zu zweit mit ihrer Zöliakie. „Und sie kennen es ja gar nicht anders“, sagt Mama Esta „Ich hab Fotos von mir gesehen, da hab ich ein Rosinenbrötchen in der Hand und sehe sehr zufrieden aus“, erzählt Mathilda. „Deshalb beneide ich Paul manchmal, wenn der eins bekommt. Aber ich vermisse das nicht wirklich, ich kann mich nicht daran erinnern, wie die geschmeckt haben.“
Genau wie ihre Schwester empfindet sie ihre Erkrankung nicht als Einschränkung. „Es gibt richtig leckere glutenfreie Kuchen“, erklärt Marie. Die Oma habe erst am Wochenende einen ganz tollen gebacken, „nur aus Nüssen, Eischaum, Kakao und Äpfeln“; „Pommes bei McDonald’s gehen sowieso“; „Schokolade, Vanille, Erdbeer und Stracciatella an unserer Eisdiele auch, ohne Waffel natürlich“; und die beste Freundin der beiden serviere statt Torte eben selbst gemachtes „Kirmesobst ....
Urlaub in der Ferienwohnung – und „nie ohne Toastbag“
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Anfangs denkt man, die Welt bricht ein, sagt die Mutter der beiden. Doch mit Zöliakie zu leben, sei wirklich machbar. Nur teuer: „Zwei glutenfreie Brötchen kosten vier Euro, zwei Tortillas fünf“. Zwar gebe es inzwischen nicht nur im Bioladen, sondern auch in Supermärkten und sogar Discountern eine gute Auswahl an glutenfreien Lebensmitteln. Aber: „Alles kostet mindestens doppelt, manches sogar dreimal soviel.“ Sie habe sogar schon bei der Krankenkasse nachgefragt, ob diese sich nicht an den Kosten für die Spezialkost beteiligen wolle. „Wollte sie nicht!“
Nach neun Jahren Erfahrung wissen die Eltern der beiden Mädchen, dass sich Maismehl zum Panieren so gut eignet wie glutenhaltiges, dass glutenfreie Martinsbrezeln dagegen ein „Unding“ sind, dass manche Low-Carb-Pizza wie Pappe schmeckt und welcher Bäcker in der Nähe auf Bestellung backt, was auch ihre Töchter essen dürfen. „Urlaub machen wir in einer Ferienwohnung und nie ohne Toastbag. Im Restaurant gibt’s Fisch oder Steak, Süßkartoffeln, gegrilltes Gemüse.“
Die Eltern der Freundinnen fragen im Zweifel bei uns nach und mit der Schule haben wir gesprochen.“ Weshalb der Koch der Rudolf-Steiner-Schule, die die Drillinge besuchen, an „Lasagne-Tagen“ für Marie und Mathilda zwei mit glutenfreien Nudeln vorbereite, eine mit und eine ohne Fleisch. (Marie mag nicht, „wenn Tiere für mich geschlachtet werden.“) Die Mädchen finden das „voll cool“, „und der Koch habe über die zusätzliche Arbeit noch nie gemeckert, sagt Vater Martin.
Die Pille gegen Zöiiakie ist „in der Pipeline“
Früher mussten die Schwestern alle drei Monate zur Untersuchung in die Kinderklinik kommen, heute einmal jährlich. Die Schilddrüsen-Erkrankung Hashimoto oder Diabetes seien typische Begleiterkrankungen, das Risiko für ein bestimmtes Darmlymphom ist erhöht. Doch die Blutwerte der Mädchen sind wieder „top“, befindet die Ärztin. In ein paar Jahren, denkt sie, seien Medizin und Landwirtschaft auch schon weiter. Theoretisch sei Gen-Weizen ohne die toxischen Substanzen denkbar. Und die Pille gegen Zöliakie, eine Art „Vorverdauer-Tablette“ sei längst „in der Pipeline“.
Dass immer mehr Eltern glaubten, sie tun ihren (gesunden) Kindern (und sich selbst) etwas Gutes, wenn sie grundsätzlich nur Glutenfreies auf den Tisch bringen, hält Anjona Schmidt-Choudhury für „Quatsch“: „Keine Diät ohne Diagnose!“ Sich glutenfrei zu ernähren sei im besten Fall „sinnlos“, im schlimmsten Fall verschleiere eine glutenfreie Kost ohne Anlass Diagnosen.
Schwierig, sagt Schmidt-Choudhury, werde es manchmal, wenn Kinder mit Zöliakie in die Pubertät kämen. „Bier geht nicht, ich weiß“, sagt Papa Martin. Und hängt lachend an: „Sekt schon…“. Selbst jemanden zu küssen, der zuvor in ein Bratwurstbrötchen gebissen habe, erklärt die Ärztin, stelle ein Risiko da. „Wer“, fragt der Vater von Marie und Mathilda da stirnrunzelnd, „will schon jemanden küssen, der gerade in ein Bratwurstbrötchen gebissen hat?“
Hilfe und Informationen finden Betroffene u.a. bei der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft: www.dzg-online.de. Kinderklinik Bochum und Familienbildungsstätte „Familienforum“ veranstalten regelmäßig Info-Abende und einmal im Jahr einen „Aktionstag Zöliakie“: www.familienforum-ruhr.de.