Essen. Was tun, wenn Kinder krank sind? Und: Welche Erkrankungen sind heute typisch fürs Kindesalter? Denn Windpocken & Co. sind selten geworden.

Windpocken, Masern, Mumps und Röteln – früher nannte man sie: Kinderkrankheiten. Aber schon damals waren sie längst nicht so harmlos, wie der Name vermuten lässt. Die WAZ sprach mit dem Kinder- und Jugendarzt Dr. Axel Gerschlauer, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte Nordrhein, über das Thema.

Gibt es die klassischen Kindererkrankungen eigentlich noch?

Gerschlauer: Ja, Windpocken, Masern, Mumps und Röteln gibt es noch, aber diese Erkrankungen sind durch die Impfungen zum Glück deutlich seltener geworden. Das Wort Kinderkrankheiten dafür gehört aber definitiv in die Mottenkiste. Kinder haben heute weit häufiger mit ganz anderen Erkrankungen zu kämpfen.

Welche Erkrankungen sind heute typisch für das Kindesalter?

Die Aufmerksamkeitsstörungen und Adipositas etwa. Wegen Corona beobachten wir zudem eine massive Zunahme psychischer Probleme So habe ich zum Beispiel noch nie meinem Leben so viele Kinder mit Ess-Störungen gesehen wie in den letzten Monaten. Das ist erschreckend.

Der Fluch der guten Prophylaxe

Lassen Sie uns dennoch zunächst bei Masern, Mumps, Windpocken und Röteln bleiben. Dass Jüngere diese Erkrankungen nicht mehr kennen, hat ja nicht nur Vorteile...

Richtig. Wer den Schrecken nicht kennt, wird nachlässig, das ist der Fluch jeder guten Prophylaxe. Dazu kommt, dass vor allem Masern noch immer unterschätzt werden, die Großeltern hatten sie ja auch und haben es überlebt.

Dr. Axel Gerschlauer ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin in Bonn sowie Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Nordrhein.
Dr. Axel Gerschlauer ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin in Bonn sowie Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Nordrhein. © Privat | Privat

Masern können tödlich sein.

Die Gefahr einer Enzephalitis, einer Entzündung des Gehirns, nicht „nur“ der Hirnhäute, liegt ungefähr bei 1 zu 1000, kein geringes Risiko also. Das wichtigste Organ im Körper ist befallen, die Sterblichkeit hoch. Und eine SSPE (subakute sklerosierende Panenzephalitis) als Spätkomplikation einer Masern-Infektion bedeutet: schwerste Schäden, ein furchtbares, schleichendes Sterben von Tag zu Tag.

Masern-Impfung für Kindergarten-Kinder ist seit 2020 Pflicht

Und dennoch veranstalten manche Eltern sogar „Masern-Partys“, um ihre Kinder gezielt zu infizieren. Die Krankheit einmal durchmacht zu haben, stärke das Immunsystem besser als eine Impfung, sagen sie.

Geht’s der Kuh zu gut, geht sie aufs Eis. Diese Masern-Partys sind uns Ärzten schon immer vollkommen unverständlich gewesen. Was die Stärkung des Immunsystem angeht: Das Gegenteil ist der Fall. Die Masern-Erkrankung macht Kinder erst einmal platt, sie sind dadurch länger und stärker anfälliger für andere Infektionen. Geimpfte Kinder sind vielleicht 48 Stunden lang ein bisschen matschig, bekommen womöglich leichtes Fieber und einen Ausschlag („Impfmasern“).

Die Schutz-Impfung gegen Masern ist in Deutschland seit 2020 Pflicht, als einzige. Wer den Kindergarten besuchen will, muss sie oder eine durch Erkrankung erworbene Immunität nachweisen. Welche Impfungen empfehlen Kinderärzte darüber hinaus?

18 hoch qualifizierte „Nerds“, totale Super-Spezialisten, befassen sich in der Ständigen Impfkommission (Stiko) mit nichts anderem als dieser Frage – und geben sich dabei wirklich Mühe, aktualisieren ihre Empfehlungen zudem ständig. Eltern sollten sich daran orientieren und lesen, was diese Experten sagen. Für uns Ärzte haben die Stiko-Empfehlungen Leitlinien-Charakter, es muss tatsächlich sehr gute Gründe geben, davon abzuweichen. Haben die Eltern Zweifel, sollten sie mit ihrem Arzt darüber reden.

Im Mai änderte die Stiko ihre Empfehlungen zur Corona-Impfung. Sie erachtet sie jetzt generell schon für Kinder ab fünf als sinnvoll. Wie groß ist das Interesse?

Wir organisieren in unserer Praxis gerade die ersten Impf-Aktionen, der Ansturm ist nicht so groß wie bei vorherigen Impfangeboten. Kinder mit Vorerkrankungen haben wir schon früher gegen Corona geimpft.

„Corona hat wie ein Brandbeschleuniger gewirkt“

Kinder, sagen Sie, leiden aber vor allem unter den Folgen der Corona-bedingten Lockdowns, der langen Zeit, die sie isoliert verbringen mussten.

Corona hat wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Wenn der Sport wegfällt, Homeschooling angesagt ist und Freunde gar nicht mehr oder nur selten getroffen werden, wundert es doch nicht, dass Kinder in der Folge motorische Probleme, Übergewicht, Depressionen, Ängste oder Ess-Störungen entwickeln. Das Furchtbare ist, dass es sowohl viel zu wenige Kinder- und Jugendpsychiater oder -psychiaterinnen als auch Therapeutinnen und Therapeuten gibt. Erkrankte warten bis zu einem Jahr auf einen Termin. Doch wer Suizidgedanken hat, benötigt sofortige Hilfe. Es bricht mir das Herz, wenn ich für ein betroffenes Kind keinen stationären oder ambulanten Platz finde. Wir brauchen unbedingt mehr Fachleute.

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Bei einer normalen Erkältung ist der Arztbesuch dagegen oft nicht einmal nötig. Was können Eltern für ein krankes Kind tun?

Abwarten und Tee trinken – sagt man, und das ist gar nicht so verkehrt. Denn tatsächlich hilft bei banalen Virusinfektionen vor allem: Sofa, kuscheln, viel trinken und viel vorlesen, vor allem bei den ganz Kleinen. Etwas Größeren empfehlen wir die „3N“ – Nurofen (ein Fiebermittel), Nasentropfen und Netflix.

Selbst bei Streptokokken-Infekten sind Antibiotika nicht zwingend

Wann sollten Eltern mit ihrem kranken Kind zum Arzt?

Erstens: Wenn es kränker wird. Eltern dürfen da ruhig auf ihr Mama/Papa-Bauchgefühl vertrauen. Zweitens: Wenn das Kind „auffiebert“ nach drei Tagen Husten und Schnupfen mit zunächst nur leichtem oder gar keinem Fieber. Fieber als solches ist dagegen gar nicht unbedingt ein Grund, den Arzt aufzusuchen. Fieber ist eine „Betriebstemperatur“, die bei der Infektabwehr hilft. Und drittens: Wenn das Kind angestrengt atmet, wenn die Eltern sehen oder hören, das geht über das normale Gerotze hinaus – auch dann sollten sie das beim Arzt abklären lassen.

Ein letztes Wort zum Thema Antibiotika bitte, wann sind die unverzichtbar?

Selten. Zum Glück hat sich da bereits viel Gutes getan, Kinder- und Jugendärzte verschreiben längst nicht mehr so viele Medikamente wie früher. Bei Antibiotika heißt das Ziel: so viel wie nötig, so wenig wie möglich. Denn ein Zuviel rächt sich mit zunehmenden Resistenzen. Selbst bei einer Streptokokken-Infektion, einer eitrigen Mandelentzündung etwa, muss man nicht mehr zwingend ein Antibiotikum geben. Früher dachte man, man muss, um Herz und Nieren zu schonen, rheumatisches Fieber zu verhindern. Heute weiß man: vor diesen Komplikationen schützen auch Antibiotika nicht, sie verkürzen nur die akute Erkrankung, um einen knappen Tag… Im Übrigen: Wirken Antibiotika sowieso nur gegen bakterielle Infektionen, nicht gegen Virus-Erkrankungen. Das bringen viele Eltern noch immer durcheinander.