Wermelskirchen/Essen. Sie ist erst acht, aber bereits gelistet für eine Leber-Transplantation. Schon jetzt bestimmt Victorias Erkrankung den Alltag ihrer Familie.
„Wenn ich tot bin“, sagt Victoria und schmiegt sich verlegen in den Arm ihrer Mama, „dann werde ich meine Organe spenden.“ Dass auch andere so denken – davon hängt das Leben der Achtjährigen wahrscheinlich ab. Das Mädchen aus Wermelskirchen ist an der Essener Uniklinik „gelistet“ für eine Leber-Transplantation.
Colitis ulcerosa, Autoimmun-Hepatitis, PSC – die lateinischen Bezeichnungen ihrer Erkrankungen, in deren Folge die Drittklässlerin eine Leberzirrhose entwickelt hat, kommen Victoria genauso flüssig über die Lippen wie die Zungenbrecher-Namen ihrer vielen Medikamente. Allein vier verschiedene Immunsupressiva liegen in der Pillenbox, die sie aus der Küche holt: Manche Arzneien müsse sie nur einmal in der Woche nehmen, andere zweimal im Monat, „diese sieben Tabletten aber jeden Tag, und dazu morgens und abends noch Urso-Saft“. Urso-Saft? „Ursodeoxycholsäure“, erklärt das kleine Mädchen im Glitzerrock geduldig. „Ist gut für die Gallenwege.“
Eine „Primär Sklerosierende Cholangitis“ (PSC) ist Victorias größte „Baustelle“: eine seltene Erkrankung der Gallenwege mit weitgehend unklarer Ursache. 70 Prozent der Betroffenen leiden wie sie zugleich an einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung, meist Colitis ulcerosa. „Aber nur fünf Prozent der Colitis ulcerosa Patienten haben PSC“, betont ihr Vater, Joachim D.. „Warum Vici?“, fragt ihre Mutter Dominika.
Die Mutter: „Eine solche Diagnose zieht einem den Boden unter den Füßen weg“
Victoria war fünf, als es anfing. Von jetzt auf sofort, erzählen die Eltern, „ging es ihr ganz, ganz schlecht“. Bis zu 20-mal am Tag musste sie sich erbrechen, dazu kamen starke Durchfälle, das Blutbild erschreckte selbst den Kinderarzt. Er wies das Mädchen in eine Klinik ein, Victoria landete auf der Intensivstation, irgendwann stand die Diagnose: „Colitis ulcerosa“. Sie bekam Cortison in hoher Dosis – und alle damit verbundenen Nebenwirkungen. Die Leberwerte schossen trotzdem „durch die Decke“, ständig war das Kind zudem mit blauen Flecken übersät – auch die Blutgerinnung stimmte nicht mehr; Milz wie Pfortader vergrößerten sich zunehmend. „Als kurz vor ihrer Einschulung bei einer Leberpunktion die Zirrhose festgestellt wurde, war klar: Vici hat auch PSC“, erinnert sich ihr Vater.
„Eine solche Diagnose zieht einem den Boden unter den Füßen weg“, sagt Dominika D. Die Eltern recherchierten im Internet, suchten nach Behandlungsoptionen, schlossen sich Selbsthilfegruppen an. „Um mit den Ärzten in den Ring steigen zu können“, sagt Joachim D.; aber auch „damit wir nicht irgendwann sagen müssen, wir haben nicht alles versucht...“. Heute nennt er das „Placebo“, denn was sie über PSC fanden, machte wenig Mut: Die Krankheit ist bislang nicht heilbar, die Prognose schlecht.
Der Vater: „Das ist echt Enterprise, was das geforscht wird“
Joachim D. hofft auf den medizinischen Fortschritt, er findet: „Das ist echt Enterprise, was da geforscht wird; was heute möglich ist und es gestern noch nicht war.“ D. hofft zudem, seiner Tochter mit einem Teil seiner eigenen Leber helfen zu können. Doch bevor untersucht wird, ob er als Lebendspender in Frage kommt, musste Victoria gelistet werden. Eine Woche lang war das Mädchen im August für die dazu notwendigen Untersuchungen in der Essener Uniklinik. Wieder einmal.
Die Eltern haben aufgehört zu zählen, Vici sagt, sie sei schon „Millionen-mal“ im Krankenhaus gewesen. „Die sind da meist auch ganz nett. Ich mag nur nicht, wie das Kontrastmittel brennt beim MRT.“ Was sie wirklich „hasst“, das sind ihre Medikamente, die dicken Tabletten vor allem („nur Magnesium nicht, das geht leicht runter“). „Manchmal“, sagen die Eltern, „sitzen wir nach dem Essen noch eine Dreiviertelstunde lang am Tisch und reden die Medizin in sie rein.“ Auch deswegen – und weil manche Tabletten auf die Stunde genau genommen werden müssen – durfte Vici bislang erst ein einziges Mal bei einer Freundin übernachten.
An schlechten Tag bestimmt die Krankheit den Alltag der gesamten Familie
Das war an einem guten Tag. An guten Tagen geht Vici auch zur Schule, Kunst ist ihr Lieblingsfach. An guten Tagen mopst sie kichernd zusammen mit ihrem kleinen Bruder Vincent (6), der tatsächlich größer ist als sie, der Mama die Dominosteine vom Plätzchenteller. An guten Tagen bastelt sie gern, malt, singt, tanzt, tollt herum wie andere kleine Mädchen, kleidet sich wie eine „Prinzessin“, an guten Tagen freut sie sich auf Weihnachten und darauf, dass der Tannenbaum in diesem Jahr in „ihrer“ Farbe geschmückt wird: „bunt“.
An schlechten Tagen liegt Vici mit ihrem Einhorn unter einer Decke auf dem Sofa im Wohnzimmer und hofft darauf, dass sie möglichst schnell enden. Die Krankheit lege die Familie an solchen Tagen „komplett lahm“, berichten die Eltern. Ihr Kind sei dann oft so schwach, dass es nicht einmal ohne Hilfe aufstehen könne, sich pausenlos übergebe, nur auf dem Klo sitze. „Wir können Vici dann keine Minute allein lassen.“ Und es gibt viele schlechte Tage. Den Leistungen in der Schule, merke man das schon an, sagt die Mutter; auch in ihrem Hochbett habe Victoria seit einem Jahr nicht mehr geschlafen… An schlechten Tagen kommt ihr Kind weder hinein noch heraus.
Wie ein Damoklesschwert schwebe die Krankheit über der Familie, meinen Vicis Eltern. Doch sie versuchten, ihrer Tochter eine möglichst normale Kindheit zu ermöglichen, den Sohn darüber nicht zu vernachlässigen. Ihn belaste am meisten, sagt der Vater, „dass es immer schlimmer wird, dass Victoria nie durchatmen kann, ihr bald nur noch eine Transplantation helfen kann“. Und er bedauert, dass so wenige Menschen nur sich mit dem Thema Organspende befassen. Aber er räumt ein: „Wie ich ohne Vici mit dem Thema umginge, weiß ich auch nicht.“ „Ich“, sagt Vici da noch einmal, „ich werde meine Organe spenden.“
>>> INFO: Transplantationen im Kindesalter
„Je später ein Kind transplantiert wird, desto besser“, sagt Prof. Arzu Özçelik, Oberärztin der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie der Essener Universitätsmedizin. „Man darf nur den richtigen Zeitpunkt nicht verpassen.“ Auch deshalb sei Victoria bereits gelistet, ihr aktueller Status aber noch „inaktiv“. Dass das Kind aus Wermelskirchen ein Spender-Organ brauche, sei „sicher“. „Und wenn es gar nicht mehr anders geht, schalten wir sie aktiv, dann bekommt sie Organ-Angebote.“
Victorias Vater graut vor diesem Moment. Er fürchtet, dass dann ein „Alltag auf Abruf“ und „das große Zittern“ beginnt. Er tut sich zudem sehr schwer damit, sagt er, dass es womöglich die Leber eines toten Kindes wäre, die das Überleben seines eigenen möglich mache. „Der Gedanke ist nicht schön.“
Es braucht: einen Sechser im Lotto
Doch das Organ eines Erwachsenen „passt“ in ein Kind nicht hinein, erklärt Arzu Özçelik, „nur wenn man es teilt“. Ein kleiner Lappen geht dann ans Kind, ein großer an einen erwachsenen Empfänger: „Doch dafür muss das Organ richtig, richtig gut sein. Und in Deutschland sind sie das sehr, sehr selten.“ Die Wahrscheinlichkeit, für sein krankes Kind rechtzeitig ein passendes zu finden, sei so groß „wie ein Sechser im Lotto“, weiß Joachim D. „Oft kann man auf eine solche Postmortem-Spende (eine Spende nach dem Tod, die Red.) für ein Kind nicht warten“, erklärt die Ärztin. Allein am Essener WZO, dem Westdeutschen Zentrum für Organtransplantationen, stehen derzeit 150 Patienten auf der Warteliste für eine Leber.
Gerade bei Kindern werden darum vor allem Lebendlebern transplantiert, Teile der Organe eines Elternteils zumeist; „in 85 Prozent der Fälle passt einer von beiden“, so die Expertin . Knapp ein Drittel seiner Leber würden die Ärzte Victorias Vater dafür entnehmen, das reicht seiner Tochter und würde ihm nicht nachhaltig schaden, denn Joachim D.s eigene Leber würde nachwachsen. Der Eingriff sei auch „nicht riesig“, meint Özçelik, „aber lieber würden wir einen gesunden Menschen gar nicht operieren. Ärzte ziehen eine Postmortem-Spende immer vor.“
Der jüngste Patient war drei Monate alt, als er am Essener WZO eine neue Leber erhielt
1987 wurde an der Essener Uniklinik die erste Leber „verpflanzt“, seit den 90er-Jahren werden hier auch Kinder transplantiert, 17 waren es im vergangenen Jahr – bei insgesamt 59 Leber-Transplantationen. Damit sei das WZO eines der größten Kinder-Leber-Transplantations-Zentren bundesweit, so Özçelik.
Ihr jüngster Patient war erst drei Monate alt. „Natürlich ist ein solcher Eingriff immer etwas ganz Besonderes, für das ganze Team. Nicht nur, weil er technisch aufwändiger ist als bei Erwachsenen.“ Als kürzlich eine Mutter, die ihrem Kind einen Teil ihrer Leber gespendet hatte, zur Nachsorge im WZO erschien – zusammen mit ihrer transplantierten, quietschvergnügten Tochter – da habe das alle doch sehr berührt. Normalerweise sehen sie ihre kleinen Patienten ja nach der OP nicht mehr, sie werden in der Kinderklinik weiter betreut. „It made my day“, erinnert sich Özçelik daher an jenes unerwartete Wiedersehen – und hängt leise an: „Also eigentlich hat mir dieser Besuch sogar die ganze Woche gerettet.“
Victorias Mutter fürchtet, dass es mit der einen Transplantation „nicht getan ist“, dass die PSC womöglich irgendwann auch das neue Organ angreifen könnte. „Kann passieren“, sagt Özçelik, viele Komplikationen könnten auftauchen, „aber wir hoffen immer, die eine neue Leber reicht“. Zu Problemen bei Patienten, die als Kind transplantiert wurden, käme es oft in der Pubertät. Wenn die Verantwortlichkeit für die gewissenhafte Einnahme der notwendigen Medikamente von den Eltern auf Sohn oder Tochter übergehe. „Das erfordert strikte Disziplin und Jugendliche, die zehn, zwanzig Jahre lang tapfer ihre Pillen geschluckt haben, lassen es dann auch schon mal schludern.“ Sie könne das sehr gut verstehen, sagt Özçelik. „Aber es kann zu einem Versagen des Transplantats führen.“