Bochum. Im Juli 2021 wurde bei Minou MCTO diagnostiziert, bundesweit sind nur vier weitere Fälle dieser Knochenerkrankung bekannt. Bochumer Ärzte halfen.

Junika (5) liebt Pusteblumen. Und ihre kleine Schwester. Jedes Mal, wenn sie die Samen in den Wind pustet, sagt sie laut: „ich will, dass Minou laufen kann.“ Minou ist drei. Und sie kann nicht laufen, weil sie MCTO hat: Multizentrische Karpotarsale Osteolyse – ihre Hand- und Fußwurzelknochen haben sich aufgelöst. Vielleicht waren sie auch nie angelegt? Man weiß es nicht, man weiß so wenig über diese „irre seltene Krankheit“. Bundesweit, schätzt Prof. Corinna Grasemann, Ärztliche Leiterin des „Centrums für Seltene Erkrankungen Ruhr“ (CeSer) in Bochum, gebe es höchstens zehn Fälle. „Von fünf wissen wir.“

Auf einem Rutsche-Dreirad kommt das kleine Mädchen mit den großen Augen zum Termin ins Universitätsklinikum St. Josef-Hospital, wo die CeSer-Koordinierungsstelle angesiedelt ist, das A-Zentrum. Minou trägt heute lilafarbene Strumpfhose und rosa Hängerchen zu ihren Mini-Orthesen, Schienen, die die Füße stabilisieren, die Fehlstellung korrigieren sollen. Sie hat auch für die Hände welche und solche für den Tag und noch ganz andere für die Nacht. Stolz demonstriert das Kind, was es Neues kann: ein paar staksige Schritte an Papas Hand tatsächlich, in die Hocke gehen und sich mit etwas Hilfe von Mama wieder hochstemmen. Grasemann, Kinder-Endokrinologin und Spezialistin für seltene Knochen-Erkrankungen, ist „hoch zufrieden“ mit der Entwicklung des Kindes, das im Sommer vergangenen Jahres ihre Patientin wurde.

„Kommen Sie in einem halben Jahr wieder“, sagte der Orthopäde

Karen E. legt ihrer Tochter die Orthesen an. Im  Fuß des kleinen Mädchens fehlen Knochen. Stehen oder laufen war für Minou bis vor kurzem unmöglich.
Karen E. legt ihrer Tochter die Orthesen an. Im Fuß des kleinen Mädchens fehlen Knochen. Stehen oder laufen war für Minou bis vor kurzem unmöglich. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Eigentlich, erinnert sich Moritz E., der Vater, „war Minou ein unkompliziertes, zweites Kind“. Doch mit neun Monaten wollte sich das Mädchen in Bauchlage noch immer nicht aufstützen, es wirkte zudem zunehmend teilnahmslos, wog auch zu wenig. Für die Dortmunder Familie begann eine wahre Odyssee: Die Eltern versuchten ihrer Tochter mit Physiotherapie zu helfen, brachten sie zum Kinderarzt, zur Osteopathin, in eine Rheumaklinik, zu einer „scheußlichen“ Magen-Untersuchung, ließen ihren Kopf im MRT scannen und ihre Knochen röntgen. „In Händen und Füßen fehlen welche“, sagte der Radiologe. Und: „Das hab ich noch nie gesehen.“ Der Orthopäde riet daraufhin: „Kommen Sie einem halben Jahr wieder.“ Da schrie Minou nur noch, wenn man sie anfasste. Jede Berührung verursachte ihr Schmerzen. „Warum weinst du soviel“, fragte Junika damals ihren Papa. „Die Ungewissheit war das Schlimmste“, erinnert sich Karen E., die Mutter.

Erst als Minous Eltern der Humangenetikerin, die sie ebenfalls längst eingeschaltet hatten, vom Röntgenbefund erzählten, stellte diese den Kontakt zu CeSer her. Corinna Grasemann untersuchte das Kind, befragte Vater und Mutter, dann Kollegen in aller Welt („Netzwerken ist das Wichtigste bei Seltenen Erkrankungen“). Sie studierte die vorliegenden Befunde und Bilder, stürzte sich in die Recherche, gab Minous Symptome in unzählige Datenbänke ein, berief eine internationale Fallkonferenz. . „Am 8.7.2021 stand die Diagnose“ – ohne eine Sekunde des Zögerns kann Moritz E. das Datum nennen. Es war der Tag, der ihrer aller Leben veränderte.

Was die Krankheit auslöst, was hilft: unklar

Die schönen, großen Augen Minous, das dreieckige, niedliche Gesicht – typisch für betroffene Patienten, weiß Grasemann heute. Neben Hand- und Fußwurzelknochen könnten auch Ellbogen und Knie betroffen sei, oft auch die Nieren, fand sie heraus – und bei Minou Hinweise darauf. Typisch sei zudem, dass der Krankheit eine spontane Gen-Mutation zugrunde liegt. Minous Humangenetikerin, die nun wusste, wonach sie suchen musste, fand eine solche Veränderung im Erbgut des Kindes.

Prof. Corinna Grasemann ist Ärztliche Leiterin des A-Zentrums, der Koordinierungsstelle des Bochumer Centrums für Seltene Erkrankungen Ruhr (CeSer) am St. Josef Hospital – und Expertin für seltene Knochen-Erkrankungen
Prof. Corinna Grasemann ist Ärztliche Leiterin des A-Zentrums, der Koordinierungsstelle des Bochumer Centrums für Seltene Erkrankungen Ruhr (CeSer) am St. Josef Hospital – und Expertin für seltene Knochen-Erkrankungen © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Was die Krankheit genau auslöst, ist unklar. „Man dachte, MCTO habe mit übermäßigem Knochenabbau zu tun; damit, dass Betroffene mehr Osteoklasten haben als andere, Zellen, die Knochen auffressen“, sagt Grasemann. „Inzwischen wissen wir, das stimmt nicht.“ Ein nicht richtig gebildetes Hormon dagegen könnte eine Rolle spielen. „Denkbar ist aber auch, dass es sich gar nicht um eine Knochenerkrankung, sondern primär um eine des Knorpels handelt...“.

Man weiß auch nicht, wie diese seltene Erkrankung verläuft („vielleicht in Schüben?“) oder welche Medikamente helfen können. Gerade einmal 132 „Orphan Drugs“, gezielt für eine seltene Erkrankung entwickelte Medikamente, waren 2021 zugelassen, EU-weit. Für Pharmakonzerne ist die aufwendige Entwicklung solcher Medikamente kaum attraktiv. „Deshalb nimmt man, was da ist“, erklärt Grasemann. In Minous Fall dauerte es Monate, bis entschieden war: Die damals Zweijährige erhält ein bewährtes Osteoporose-Medikament, eines, das für Frauen nach der Menopause entwickelt wurde.

Seltene Erkrankungen sind meist unheilbar

Es half. Vermutlich, so Grasemann, weil es nicht nur die Knochen schützt, sondern auch gegen Entzündungen wirkt. Denn inzwischen ist sie sicher, dass Minous Schmerzen vor allem auf Entzündungen in ihren Füßen und Händen zurückgingen. Heute ist Minou ein meist schmerzfreies, fröhliches, aktives Kind. „Sie kann noch immer nicht alleine laufen, aber wenn sie von A nach B will, findet sie einen Weg“, erzählt ihre Mutter. Minou kann mit ihren kraftlosen, kranken Händen noch immer keinen Duplo-Stein vom anderen lösen, aber inzwischen sogar mit Messer und Gabel essen, berichtet der Vater. Dass sein Kind endlich Lust an Bewegung entwickele, aus seiner Passivität herausgefunden habe, freut ihn am meisten.

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Alle zwei Monate muss Minou für zwei Tage in die Bochumer Klinik, um das Medikament injiziert zu bekommen; sie benötigt weiterhin beinahe täglich Physiotherapie oder Frühförderung, ist aber „vom Kopf her ganz klar auf Stand“, wie die Eltern berichten. „Es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, dass sie ihren Weg machen wird“, sagt der Vater und schließt an: „derzeit“. Denn wie lange die Arznei noch wirkt, wie die Krankheit letztendlich verlaufen wird, das wissen Moritz und Karen E. nicht, das weiß nicht einmal ihre Ärztin, die Spezialistin. Die Eltern haben inzwischen Kontakt zu Betroffenen in den USA und in Italien – mit ganz unterschiedlichen Ausprägungen der Erkrankung. „Auswachsen“, soviel ist sicher, wird sich Minous MCTO nicht. Seltene Erkrankungen sind fast immer unheilbar.

„Unheilbar“, sagt Corinna Grasemann, „heißt aber nicht untherapierbar.“

>>>INFO: Seltene Erkrankungen

CeSer, das Centrum für Seltene Erkrankungen Ruhr, ist ein universitäres Kompetenznetzwerk der Ruhr-Uni Bochum und der Uni Witten/Herdecke. Es soll die Versorgung verbessern und versteht sich als Anlaufstelle für alle Menschen mit seltenen Erkrankungen – und deren Ärzte, aber auch der Patientenselbsthilfe. Das A-Zentrum am Bochumer St. Josef Hospital vermittelt Betroffene an die richtigen Fachkliniken (B-Zentren), berät Ärzte, organisiert Fortbildungen – und unterstützt Jugendliche mit seltenen Erkrankungen beim schwierigen Wechsel in die Erwachsenenmedizin.

Bundesweit gibt es 36 Zentren für Seltene Erkrankungen wie das in Bochum, im Ruhrgebiet nur noch ein weiteres in Essen.

Als selten gilt (in der EU) eine Erkrankung, von der nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen betroffen sind. Etwa 8000 unterschiedliche seltene Erkrankungen sind in Deutschland bekannt, die Liste der Europäischen Datenbank„Orphanet“ beginnt mit AA-Amyloidose und endet mit Zytopenie. Allein in NRW leben eine Million Betroffene. Weltweit sollen es 300 Millionen sein. Eine der bekanntesten seltenen Erkrankungen ist Mukoviszidose (8000 Betroffene in Deutschland).

2010 wurde ein „Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen“ ins Leben gerufen: NAMSE – auf Initiative von Bundesgesundheits- und Bundesforschungsministerium sowie des Selbsthilfe-Dachverbands Betroffener„Achse e.V.“.