Essen. Eines von bundesweit fünf Protonentherapiezentren steht in Essen. Aus aller Welt kommen Patienten her, viele junge vor allem. Wie Veronica (17).

Veronica ist 17 und hat einen Tumor im Gehirn: ein Meningeom, eine gutartige Geschwulst. Ein kleiner Rest blieb zurück im Kopf des Mädchens aus dem oberschwäbischen Biberach an der Riß, als ihre Ärzte in Ulm ihn operierten; er fing erneut zu wachsen an. Im Westdeutschen Protonentherapiezentrum (WPE) an der Uniklinik Essen beschießen sie ihn jetzt mit Wasserstoffionen, zielgenauer und schonender, als eine gewöhnliche Strahlentherapie es vermochte. Die Chancen, dass das Meningeom in Veronicas Kopf danach nie wieder Ärger macht, stehen: ausgesprochen gut.

Deutschlandweit gibt es nur fünf Protonentherapie-Einrichtungen; die in Essen mit ihren vier Behandlungsräumen feiert in diesem Jahr zehnten Geburtstag. An die 4000 Menschen wurden hier schon bestrahlt, Veronica ist das 2000. „Kind“, die 2000. Patientin unter 18 Jahren, im WPE, das sich unter anderem auf die Tumor-Behandlung von Kindern spezialisiert hat. „Die Prognose bei diesen Erkrankungen ist ausgezeichnet, bei ungefähr 80 Prozent der Betroffenen erreichen wir mit Bestrahlung eine Tumorkontrolle. Auch deshalb müssen Spätschäden einer Bestrahlung nach Möglichkeit vermieden werden,“, erklärt die ärztliche Leiterin des WPE und Direktorin der Klinik für Partikeltherapie, Prof. Beate Timmermann. „Diese jungen Patienten haben ja noch viel Lebenszeit vor sich.“

Erst hieß es „Migräne“ oder „Psyche“ – dann kamen die Lähmungen

Hinter Veronica sieht man den Bestrahlerkopf. Die Maske (grün) wird für jeden Patienten individuell angefertigt
Hinter Veronica sieht man den Bestrahlerkopf. Die Maske (grün) wird für jeden Patienten individuell angefertigt © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Veronica litt seit der Pubertät unter heftigen Kopfschmerzen. „Migräne“, sagten die Ärzte, oder: „die Psyche“. Dann spürte sie plötzlich ihr linkes Bein nicht mehr, auch der linke Arm fühlte sich „wie eingeschlafen“ an. Ein Krampfanfall im Sommer 2021 führte nach einer Kernspintomographie zur Gewissheit: Es ist ein Meningeom, ein Tumor, der nicht streut – aber wächst. Veronicas Mutter Katharina brach in Tränen aus, als sie das erfuhr, sie weint noch heute, wenn sie davon erzählt. Ihre Tochter indes sagt, „irgendwie war ich erleichtert“. Ihr sei lange schon klar gewesen, „dass etwas ganz und gar nicht stimmt, und das es nichts mit meiner Psyche zu tun hat. Als die Diagnose stand, wusste ich wenigstens, was los war.“

Nach der OP in Ulm musste sie das Laufen neu lernen, halbseitig gelähmt hatte man sie eingeliefert. Der linke Fuß habe sich nachhaltig angefühlt „wie Pudding“, erinnert sich Vero, wie sie ihre Freunde nennen. Ein Schuljahr verlor die gute Schülerin darüber. Aber die Kopfschmerzen: waren verschwunden.

Protonen ermöglichen eine zielgenauere Bestrahlung

Im Juli 2022 kehrten sie zurück. Drei Monate später war klar: der Tumor wächst wieder, jetzt kann nur noch eine Bestrahlung helfen. Die Ulmer Uniklinik überwies Veronica ins WPE. 500.000 Menschen jährlich erkranken an Krebs, davon sind 2000 Kinder. 800 bis 900 von ihnen müssen bestrahlt werden. Ein Drittel von ihnen kommt dafür ins WPE. „Keine andere Einrichtung hat auf diesem Gebiet so viel Erfahrung wie wir“, betont Timmermann, eine der raren Expertinnen für Tumoren im Kindesalter. Mädchen und Jungen aus ganz Europa werden in Essen behandelt, sogar aus China, Australien, Südafrika und der Mongolei kamen schon kleine Patienten.

Anders als bei einer normalen (Photonen-)Bestrahlung kann man Protonenstrahlen so steuern, dass sie ihre Wirkung genau dort anbringen, wo sie sitzen soll: im Tumor. Und eben nicht im umliegenden, gesunden Gewebe. Photonen durchdringen den Körper komplett, schädigen dabei womöglich auch die Erbsubstanz nicht entarteter Zellen. Protonen hingegen verlieren an Energie, wenn sie auf Gewebe stoßen, und „bleiben stecken“, erklärt die Radio-Onkologin Timmermann. „An welchem Punkt sie genau stoppen, können wir steuern, indem wir die Geschwindigkeit ändern, mit der wir sie losschicken.“

Veronicas Mutter staunt im Behandlungsraum: Ein Riesenapparat

Lisa Ulrich, Medizinische Technologin für Radiologie, bereitet Veronica für eine ihre letzten Bestrahlungen im WPE vor. Die Behandlung selbst dauert nur wenige Minuten. Im Hintergrund: die „Gantry“.
Lisa Ulrich, Medizinische Technologin für Radiologie, bereitet Veronica für eine ihre letzten Bestrahlungen im WPE vor. Die Behandlung selbst dauert nur wenige Minuten. Im Hintergrund: die „Gantry“. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann Funke Foto Services

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30 Bestrahlungen wurden für Veronica beschlossen, fünf pro Woche. Anfang Januar kam die 17-Jährige mit ihrer Mutter nach Essen, sie mieteten eine kleine Wohnung in Kliniknähe. Am gestrigen Dienstag erhielt die Realschülerin aus Baden-Württemberg ihre letzte Therapieeinheit. Zum ersten Mal ist an diesem Morgen Veronicas Mutter Katharina mit im Behandlungsraum – und baff. Sie hatte nicht erwartet, „dass sie so ein großes Gerät auffahren, um so ein kleines Ding zu vernichten“, sagt sie. Der Tumor im Kopf ihrer Tochter maß doch, als man ihn diagnostizierte, vor der OP, nur vier mal vier mal vier Zentimeter, auch wenn Veronica sagt, er sei ihr „groß wie ein Tennisball“ vorgekommen.

Die futuristische „Gantry“, die Maschine, die den nicht minder gigantischen Bestrahlerkopf bewegt, beherrscht den Behandlungsraum. Die Liege, auf der Veronicas Kopf für die Behandlung mithilfe einer starren Gittermaske aus grünem Polymer fixiert wird, wirkt winzig daneben. Maske und Kissen für die Liege werden für jeden Patienten individuell angefertigt; die ganz Kleinen dürfen ihre Masken bemalen, wenn sie mögen.

Nebenwirkungen sind seltener und milder als bei anderen Bestrahlungen

Zweimal 60 Sekunden lang wird Veronicas Tumor gezielt bestrahlt, aus zwei verschiedenen Richtungen. Vor der ersten Einheit habe sie „ein bisschen Herzrasen“ gehabt, erinnert sich Veronica, „an die Maske muss man sich erst gewöhnen...“ Aber das war schnell überwunden. Die Bestrahlung mache „ziemlich schlapp“, verursache zudem etwas Kopfschmerzen, sagt die 17-Jährige. Aber nachmittags, nach den Therapie-Einheiten, war sie meist wieder fit, erkundete mit ihrer Mutter das Ruhrgebiet, ging mit Hündin Nala spazieren oder lernte für die Schule – im Mai sind die Abschlussprüfungen. Am Wochenende oder abends kam Besuch: Vater, Tante und der „kleine“ Bruder (14), die Großeltern, Freunde, der Liebste.

Prof. Beate Timmermann, Direktorin der Klinik für Partikeltherapie, ist die ärztliche Leiterin des WPE – und eine der wenigen Expertinnen in Deutschland für Tumoren im Kindesalter.
Prof. Beate Timmermann, Direktorin der Klinik für Partikeltherapie, ist die ärztliche Leiterin des WPE – und eine der wenigen Expertinnen in Deutschland für Tumoren im Kindesalter. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann Funke Foto Services

Eine Protonenbestrahlung sei meist gut verträglich, erklärt Timmermann, Nebenwirkungen seien möglich, aber seltener und milder als bei anderen Therapien. „Manche Patienten merken gar nichts!“ Die Haare könnten natürlich ausfallen, wenn man Tumoren am Kopf bestrahlt – Veronica versteckt die kahle Stelle unter einer Mütze.

Die 17-Jährige blickt sehr zuversichtlich in die Zukunft, freut sich darauf, wieder nach zuhause zu kommen, Sport machen zu können, in die Schule gehen zu dürfen. Eine Ausbildung als Pharmazeutisch Technische Assistentin will sie beginnen, eine große Familie gründen. „Ganz normal weiterleben halt“, sagt Veronica. „Und ich wüsste nicht, was mich daran hindern sollte!“


>>> INFO: Das Westdeutsche Protonentherapiezentrum Essen

Timmermanns erster Patient im WPE war 2013 „ein mutiger, alter Mann mit Schädelbasistumor“, heute behandelt das WPE vor allem Hirntumoren und solche in der Leber oder im Hals-Nasen-Ohren-Bereich, Sarkome, Lymphdrüsen- und Prostatakrebs, darüber hinaus landen hier Patienten, die ein zweites Mal am selben Ort bestrahlt werden müssen. Der jüngste Patient war erst ein halbes Jahr alt.

>>> INFO: Bestrahlung in der Palliativbehandlung

Leider sei die Angst vor Bestrahlungen oft groß, sagt Timmermann. Sie wirbt dafür, Strahlentherapie auch im palliativen Bereich einzusetzen, bei Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren. Sie könne Schmerzen lindern, Knochen festigen, Querschnitte verhindern und Blutungen stoppen. Schon ein bis vier („ambulante!“) Bestrahlungen seien oft sehr effektiv, um die Lebensqualität zu verbessern. „Das ist wichtig für jemanden, der nicht mehr viel Zeit hat.“ Gerade bei Kindern denke man aber noch viel zu selten daran. „Deutschland ist sehr skeptisch, was Bestrahlungen vin Kindern angeht.“