Essen. Lange orientierte sich Medizin am Mann. Die Gendermedizin berücksichtigt Unterschiede der Geschlechter. In Essen wird das Studierenden vermittelt

Der Frau ist übel. Am Morgen hat sie sich übergeben. Das kennt sie schon von den Migräne-Anfällen, die sie fast wöchentlich hat. Aber nun kommen Schmerzen im Nacken dazu und die Luft sei wie abgeschnürt. „Entschuldigen Sie, dass ich hier überhaupt ohne Termin auftauche“, sagt sie zu der Krankenhausärztin vor sich. Sie müsse auch eigentlich gleich wieder zur Arbeit, das sei bestimmt nur der Stress. Wenn die Ärztin ihr doch nur kurz etwas geben könne?

Es ist eine Szene wie diese, die sich in Notfallambulanzen überall im Land abspielen könnte. In diesem Fall ist sie nur gespielt: Eine Schauspielerin simuliert die Kranke für eine kleine Gruppe von Studierenden der Medizin und Biologie an der Universität Duisburg-Essen. Der medizinische Nachwuchs soll herausfinden, um welche Krankheit es sich handelt und dabei auf eines im Speziellen schauen: dass vor ihm eine Frau sitzt.

Symptome unterscheiden sich

Lange Zeit hat sich die Medizin vor allem an Männern orientiert. Erst seit einigen Jahren rückt mehr und mehr ein neuer Ansatz in den Fokus: die Gendermedizin. Das Wort „Gender“ ist ein englisches Wort für Geschlecht. Die Gendermedizin berücksichtigt nicht nur biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen – sie hat auch Punkte wie gesellschaftliche Normen und Prägungen im Blick.

Beides, so die Annahme, hat Einfluss darauf, wie Krankheiten diagnostiziert werden, welche Symptome auftreten und wie eine Behandlung im besten Fall aussehen kann. Verkürzt gesagt: Frauen sind anders krank als Männer.

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So auch in dem Fall, den sich die Essener Studierenden anschauen sollen: Die Schauspielerin simuliert einen Herzinfarkt. Hier unterscheiden sich die Symptome, die Frauen und Männer haben: Während Männer von dem bekannten Brustschmerz berichten, thematisieren Frauen eher Erbrechen, Schwindelgefühl, Schmerzen im Magen oder in der Schulter – Anzeichen also, die man typischerweise nicht mit einem Infarkt in Verbindung bringt. Bei Frauen werden Herzinfarkte später erkannt und sie haben eine höhere Sterblichkeit als Männer.

Andrea Kindler-Röhrborn arbeitet an der Uniklinik Essen in der Krebsforschung.
Andrea Kindler-Röhrborn arbeitet an der Uniklinik Essen in der Krebsforschung. © UK Essen

Trotzdem gehe es bei Gendermedizin nicht um eine Medizin für Frauen, betont die Krebsforscherin Andrea Kindler-Röhrborn. „Gendermedizin erkennt die Unterschiede an und wenn wir das tun, schaffen wir eine bessere Medizin für Männer und Frauen.“ Kindler-Röhrborn hat sich erstmals vor etwa 15 Jahren mit diesen Unterschieden beschäftigt. Bei Tierexperimenten war ihr damals aufgefallen, dass Tumore bei männlichen Ratten häufiger entstehen als bei weiblichen. „Männer haben generell eher Krebserkrankungen als Frauen.“

Bewusstsein bei Medizinstudierenden wecken

Zusammen mit Anke Hinney, Prodekanin für wissenschaftlichen Nachwuchs und Diversität der Medizinischen Fakultät der Uni Duisburg-Essen, hat Kindler-Röhrborn 2020 das Wahlfach Gendermedizin an der Universität Duisburg-Essen aufgebaut. Stark gebündelt in zwei Wochen lehren Fachleute aus verschiedenen Bereichen in diesem Fach, das Studierende freiwillig wählen können.

„Wir wollen bei den Studierenden das Bewusstsein für diese geschlechtsspezifischen Unterschiede schaffen“, sagt Hinney. Denn den wenigsten sei Gendermedizin bislang im Studium begegnet. „Das muss sich ändern. Bei Gendermedizin geht es nicht nur darum, dass Symptome anders auftreten. Es geht auch um die Frage, ob man Therapien geschlechtsspezifisch anpassen muss, damit sie wirksamer sind.“

Depressionen werden als weiblich wahrgenommen

Einige Beispiele: Depressionen werden bei Männern deutlich seltener diagnostiziert wie bei Frauen. Männer geben noch immer weniger gern zu, psychische Probleme zu haben, Beschwerden werden oft eher körperlicher Natur zugeschrieben. Frauen bekommen oft später Diabetes, haben dann aber ein deutlich höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Anke Hinney ist Prodekanin für wissenschaftlichen Nachwuchs und Diversität  der Uni Duisburg-Essen und forscht seit zweieinhalb Jahrzehnten an genetischen Mechanismen bei der Gewichtsregulation und bei psychiatrischen Störungen im Kindes- und Jugendalter - seit über zehn Jahren am LVR-Klinikum Essen.
Anke Hinney ist Prodekanin für wissenschaftlichen Nachwuchs und Diversität der Uni Duisburg-Essen und forscht seit zweieinhalb Jahrzehnten an genetischen Mechanismen bei der Gewichtsregulation und bei psychiatrischen Störungen im Kindes- und Jugendalter - seit über zehn Jahren am LVR-Klinikum Essen. © UK Essen

Auch Medikamente können bei Frauen und Männern anders wirken. Schmerzmittel etwa kann die männliche Leber schneller abbauen als die weibliche, was bei Frauen ungewollt zu Nebenwirkungen führt. Deshalb ist es problematisch, wenn medizinische Studien zum überwiegenden Teil mit männlichen Patienten stattfinden.

Auch Corona hat Unterschiede aufgezeigt: Bereits zu Beginn der Pandemie zeigte sich, dass Männer oft schwerer an Covid-19 erkrankt als Frauen. Fachleute verweisen auf Unterschiede beim Immunsystem von Männern und Frauen. Dagegen hat das gute weibliche Immunsystem auch Nachteile: Frauen leiden häufiger an Autoimmunerkrankungen wie Rheuma oder Schilddrüsenerkrankungen.

Frauen erhalten seltener eine Spenderleber

Beispiele gibt es aber auch in der Transplantationsmedizin - zum Beispiel bei Lebertransplantationen. In diesem Feld arbeitet Arzu Oezcelik seit 2018 an der Universitätsklinik Essen. Die 44-Jährige leitet den Bereich der Leberlebendspenden an der Klinik für Transplantationschirurgie, zuvor hat sie an Kliniken in den USA und der Türkei gearbeitet und dort wie in Deutschland auch tagtäglich mit Menschen zu tun, die auf eine Organspende warten. Ihre Feststellung: „Frauen sind bei der Zuteilung strukturell benachteiligt.“

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Das hat aus Sicht der Fachfrau zwei Gründe. Zum einen stünden Frauen weniger Organe zur Verfügung als Männern. Weibliche Lebern sind kleiner als die von Männern. Eine größere männliche Leber könne man einer Frau nicht transplantieren, umgekehrt aber einem Mann die kleinere weibliche Leber.

Hinzukomme, dass die Kriterien, nach denen sich der Platz auf einer Warteliste für ein Spenderorgan berechne, für Frauen und Männer gleich sei. Man wisse aber, dass bestimmte Krankheits-Werte, die in diese Berechnung einfließen, bei Frauen auf einem niedrigeren Level seien als bei Männern. Übersetzt: „Frauen müssen kränker als Männer sein, um ein Organ zu bekommen“, sagt die Professorin für Viszerale Transplantation.

Medizinerin will Einfluss des Geschlechts bei Transplantationen erforschen

Oezcelik wirbt nicht nur eindringlich dafür, solche gravierenden Unterschiede zu berücksichtigen. Sie selbst will weitere geschlechtsspezifische Unterschiede erforschen: „Bislang spielt das Geschlecht des Spenders bei Organtransplantationen keine Rolle. Diese Frage wird bei der Bewertung, ob ein Organ geeignet ist oder nicht, nicht berücksichtig“, sagt Oezcelik.

Prof. Arzu Oezcelik ist Transplantationsmedizinerin und forscht zu der Frage, welche Rolle das Geschlecht bei Leber-Transplantationen spielen.
Prof. Arzu Oezcelik ist Transplantationsmedizinerin und forscht zu der Frage, welche Rolle das Geschlecht bei Leber-Transplantationen spielen. © UK Essen | UK Essen

Damit sei bislang kaum erforscht, welche Auswirkungen es hat, wenn ein Patient die Leber einer Spenderin transplantiert bekommt – und welchen Unterschied es macht, wenn das Organ von einem Mann stammt. Oezcelik und ihr Team wollen das nun erstmals in großem Umfang untersuchen und dazu Dokumente zu Leber-Transplantationen aus den zurückliegenden Jahren am Universitätsklinikum Essen anschauen. „Wir schauen uns verschiedene Faktoren an, gucken, welche Folgeerscheinungen auftreten und vor allem klären, warum“, sagt die Transplantationsmedizinerin.

Auch Oezcelik betont: Bei beiden Punkten gehe es nicht um eine Bevorteilung der Frauen. „Gendermedizin hat nichts mit Gleichberechtigung zu tun“, sagt Oezcelik. „Hier geht es nicht um ein soziales Konstrukt, sondern um Wissenschaft.“

Neue Studienordnung ab 2025

Vincent Menkel gehört zu den Studierenden, die an dem Wahlfach teilnehmen. Der 24-Jährige studiert Medizinische Biologie im Master und will später in der Virologie arbeiten. Von Gendermedizin, das gibt er offen zu, habe er erst vor wenigen Monaten gehört. „Ich habe im Internet einen Artikel dazu gefunden und wie das so ist, ich habe immer mehr Berichte rund um dieses Thema angeboten bekommen und mich festgelesen“, sagt er.

Es habe ihn überrascht, dass Gendermedizin erst in jüngerer Vergangenheit Thema geworden sei. „Wir sprechen schon so lange über personalisierte Medizin, da wäre es doch naheliegend, erst einmal geschlechtsspezifische Unterschiede zu berücksichtigen“, sagt er.

Dass die Universität ihren Studierenden in diesem Feld ein zumindest freiwilliges Angebot macht, findet Menkel gut. Es müsse aber besser beworben werden, findet er. Künftig muss die Uni das wohl zumindest für Medizinstudierende nicht mehr tun: Ab dem Jahr 2025 gilt eine neue Approbationsordnung, die nach Angaben von Fachleuten geschlechtsspezifische Unterschiede in den Lehrplänen des Medizinstudiums verankern soll.

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