Bochum/Essen. Henry Wahlig leidet an der seltenen Erbkrankheit HSP, ist im Alltag auf den Rollstuhl angewiesen. Jetzt startete er eine „Walking Challenge“.
Henry Wahligs Marathon ist keine 42,195 Kilometer lang, sondern 18,48. Unter zwei Stunden wird er ihn trotzdem nicht laufen. Er will es in 14 Tagen schaffen, jeden Tag etwas mehr als einen Kilometer gehen – und das ist ein extrem sportliches Ziel. Denn der 40-jährige Bochumer ist schwer krank, im Alltag „zu 90, 95 Prozent auf den Rollstuhl angewiesen“.
In der Grundschule fiel es auf: dass der kleine Henry, eigentlich ein rechter Wirbelwind, beim Rennen immer hinter den anderen zurück blieb, dass er oft hinfiel. „Lassen Sie das mal checken“, riet ein Lehrer den Eltern. Ein halbes Jahr später stellte ein Kinderneurologe in Münster, wo Henrys Familie damals lebte, die Diagnose: HSP, Hereditäre Spastische Spinalparalyse.
Oft vergehen Jahre zwischen ersten Beschwerden und Diagnose
„Das“, sagt Prof. Stephan Klebe, der Arzt, der Henry Wahlig heute behandelt, „war gut für ihn. Ist aber völlig untypisch.“ Denn HSP ist eine sehr seltene Erkrankung, gerade 4000 Menschen sind bundesweit betroffen. „In der Regel vergehen Jahre zwischen ersten Beschwerden und Diagnose“, weiß Klebe, Neurologe am Essener Universitätsklinikum, Leiter der dortigen Spezialambulanz für Bewegungsstörungen. Die Betroffenen würden anfangs oft von einem Orthopäden zum nächsten geschickt, auf Multiple Sklerose behandelt oder befürchteten, wie Stephan Hawking an ALS erkrankt zu sein...
HSP führt zu einer Degeneration der Nervenbahnen im Rückenmark, Bewegungsimpulse aus dem Hirn werden immer schlechter weiter geleitet, die Patienten können immer weniger gut gehen, sind irgendwann vollständig auf den Rollstuhl angewiesen. Ein Gendefekt ist dafür verantwortlich, die Krankheit erblich. Auch Henrys Mutter und seine Oma sind betroffen, erkrankten allerdings erst in höherem Lebensalter. Henrys Vater Tom, ein Pharmakologe, gründete eine Stiftung zur Erforschung von HSP: die Tom Wahlig Stiftung. Irgendwann, so deren Ziel, soll die heute unheilbare Krankheit heilbar sein. Mit seiner „Walking Challenge“ will Wahlig um Aufmerksamkeit und Spendengelder dafür werben, „auch wenn ich langsamer unterwegs bin als jede Oma“.
Langsamer als andere? „Jeder sollte auf seine eigenen Ziele schauen“
Eine Stunde braucht der zweifache Vater für einen Kilometer – und all seine Konzentration, weshalb er immer alleine laufe. „Es fühlt sich an“, erklärt er, „als ob ein Sack Zement unten an den Beinen hängt.“ Er hat hart trainiert für seinen „Marathon“ und doch fällt ihm jeder einzelne Schritt furchtbar schwer. Wer Wahlig bei seinen Runden rund ums Bochumer VfL-Stadion beobachtet, kann das unschwer erkennen. Ort und Distanz der Challenge sind im Übrigen keineswegs zufällig gewählt: Wahlig ist großer Fußballfan und sein Lieblingsverein der Vfl Bochum. Und der wurde bekanntlich im Jahr 1848 gegründet.
Zwölf Kilometer hat er in den ersten sieben Tagen geschafft, für Montag ist die letzte Etappe geplant. „Und toi,toi,toi, noch läuft es gut.. Ich bin danach kaputt, wie andere auch nach intensivem Sport. Aber mein Rücken meckert nur ganz wenig. Die Beine fühlen sich sogar ein wenig lockerer an“, berichtet Wahlig, ein promovierter Historiker. Er arbeitet als Veranstaltungsmanager beim Dortmunder Fußballmuseum, nutzt seine Elternzeit für die „Challenge“, will damit auch „ein Signal setzen“, wie er sagt, „ohne Vorbild sein zu wollen“. „Jeder sollte auf seine eigenen Ziele schauen.“
„Als Jugendlicher konnte ich sogar noch Treppen steigen“
„Ich habe sehr viel Glück im Leben“, findet der Mann im Rollstuhl. Die Krankheit schreite langsam voran bei ihm. Es gebe fast nichts, was er gar nicht mehr machen könne. Als Kind habe er sogar noch Fußball gespielt im Verein, als Jugendlicher immerhin noch Treppen steigen können… Haarscharf reichte das für sein Abi. „Ein Jahr später hätte ich die Treppe in meinem Gymnasium nicht mehr gepackt und die Schule wechseln müssen...!“ Heute kann er nicht einmal mehr frei stehen. Beim Laufen stützt er sich auf Walkingstöcke, die Schiebegriffe seines Rollstuhls oder den Kinderwagen seiner jüngsten Tochter. Die Frage „Wir wird das enden?“ stellt er sich nicht mehr, sagt er, auch wenn er zusammen mit seiner Frau Susanne derzeit das Haus barrierefrei umbaue. „Kopfkino hab ich mir verboten.“ Natürlich kenne er Momente, in denen er hadert, verzweifelt. Er redet wohl nur nicht gern darüber. „Es nervt“, sagt er, der doch so ungeduldig ist, bloß. „Wenn du merkst, dass du für alles unendlich lange brauchst, wieviel Zeit die Krankheit frisst.“
„Das Schlimmste sind die Spastiken“, sagt Stephan Klebe, der Neurologe. HSP-Patienten leiden unter permanenten Muskelkontraktionen in den Beinen. „Sie müssen sich das vorstellen, wie einen Dauerkrampf.“ Extrem schmerzhaft also. Physiotherapie und Tabletten können das Leiden etwas lindern. Täglich macht Wahlig seine Übungen.
Die „Crux“ bei seltenen Erkrankungen: Es fehlen Medikamente und Lobby
Manchen Patienten, berichtet Klebe, könnte Botulinumtoxin helfen, ein Medikament, das etwa nach Schlaganfällen zur Therapie von solchen Spastiken verabreicht wird. Doch das ist für HSP nicht zugelassen – weswegen in jedem einzelnen Fall ein komplizierter Kostenübernahmeantrag für den sog. Off-Label-Use bei der Krankenkasse gestellt werden muss. Und der werde oft abgelehnt, HSP-Patienten hätten keine Lobby. „Das ist die Crux bei allen seltenen Erkrankungen“, erklärt Klebe.
Der Essener Neurologe hat die Hereditäre Spastische Spinalparalyse zu einem seiner Forschungsschwerpunkte gemacht, das Essener Klinikum zählt zu dem guten Dutzend deutscher Spezialzentren. Allein mit der Diagnosestellung könne man vielen Betroffenen sehr helfen, findet Klebe. Henry Wahlig kennt er seit über 20 Jahren. „Wir wissen heute sehr viel mehr als früher“, sagt er Mediziner, „und Wissen nimmt Angst“. Aber: Was die Behandlung von HSP-Patienten anginge, habe sich in all den Jahren kaum etwas verändert.
Immerhin hätten sich die Spezialisten inzwischen zusammen geschlossen: im vom Bund geförderten Netzwerk „Treat HSP“, das sich der Erforschung dieser seltenen Erkrankung widmet. Und, wird HSP irgendwann heilbar sein? Rasche, entschiedene Antwort Klebes: „Ja!“ Wird der 40 Jahre alte Henry Wahlig das noch erleben? „Ja!“ „Kommt natürlich drauf an“, muss Klebe hier aber ergänzen, „was man unter heilbar versteht: das Rad völlig zurückdrehen, den Ausbruch von HSP verhindern oder ihn aufschieben?“ Fußballspielen, denkt er, „wird Henry nie mehr.“ Sein Patient lacht zufrieden: „Wenn es bleibt, wie es jetzt ist, ist doch alles gut. Ein Fußballstar wäre eh nie aus mir geworden.“
Mehr über die Tom Wahlig Stiftung und Henrys Walking Challenge unter: https://www.hsp-info.de
Termine für die HSP-Spezialambulanz Essen können unter Tel.: 0201 / 723 - 6513 vereinbart werden.
Unter gleicher Nummer können sich auch Interessierte melden, die an einer Studie des Netzwerks Treat HSP zum Thema „Lebensqualität“ teilnehmen möchten.
>>>>> Info: Seltene Erkrankungen
Eine Krankheit gilt dann als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind. Allerdings gibt es über 6000 verschiedene seltene Erkrankungen – und damit bundesweit insgesamt doch rund vier Millionen Betroffene.
Es gibt 80 verschiedene Formen der HSP; die, unter der Henry Wahlig leidet, ist die häufigste. Bei ihm sind „nur“ die Beine betroffen. Andere Varianten der komplexen Erkrankung treffen Blase, Oberkörper oder Feinmotorik, manche auch den Intellekt.