Datteln/Hannover. In Deutschland leiden 550.000 Kinder an chronischem Schmerz. Wie Arne (12). Superheldenkräfte helfen, weiß das Kinderschmerzzentrum in Datteln.
„Wir haben die Hölle hinter uns“, sagt Lilly Homeyer. Ihr Sohn Arne, heute zwölf, erkrankte 2018 an „Pseudotumor cerebri“ – einer Krankheit, die dem Jungen aus dem niedersächsischen Isernhagen ständige, unerträgliche Kopfschmerzen bereitete, und seine alleinerziehende, berufstätige Mutter in die Verzweiflung trieb. „Er lag irgendwann nur noch im Dunkeln und vegetierte vor sich hin“, erinnert sich Homeyer. Arne ist noch immer nicht gesund, er wird es womöglich nie wieder sein. Seine Erkrankung, auch bekannt unter dem Namen IHH (Idiopathische Intrakranielle Hypertension), ist bislang nicht heilbar. Aber Arne ist, seit er den Weg ins Deutsche Kinderschmerzzentrum Datteln fand, wieder ein glückliches Kind, „ein richtiger Sonnenschein“, wie seine Mutter findet.
IHH ist eine seltene, häufig verkannte, neurologische Erkrankung unbekannter Ursache. Sie lässt den Hirndruck steigen, ohne dass sich dafür eine organische Ursache findet. Bei Arne fing es mit Fieberschüben an. „Ein Infekt“, dachte die Mutter und schickte ihn nicht zur Schule. Dann begann ihr Kind sich zu erbrechen, wenn sie es weckte, Morgen für Morgen, über Phasen von bis zu vier Wochen. „Arne wurde immer weniger, immer kraftloser“, der damals Achtjährige wog irgendwann bloß noch 20 Kilo, „fast weniger als sein Ranzen!“. Die Fehltage in der Schule summierten sich auf 70 in einem einzigen Jahr, „Wir saßen nur noch beim Arzt“, erinnert sich Lilly Homeyer. „Beide mit unseren Nerven am Ende!“
„Arne platzte der Kopf“
Die Augenärztin, der bei einer Routinekontrolle des kleinen Brillenträgers eine „Stauungspapille“ aufgefallen war, ein weiteres typisches Symptom seiner Erkrankung, überwies Arne an die Klinik der Medizinischen Hochschule in Hannover (MHH). Die Kinderneurologen dort diagnostizierten im Mai 2019 IHH und verordneten Medikamente. „Die vertrug Arne nicht“, sagt seine Mutter. Der Junge erbrach sich weiter, die Schmerzen wurden sogar schlimmer, „ihm platzte der Kopf“. Die Schule schaltete eine Amtsärztin ein, von einem Schwerbehindertenausweis und der Notwendigkeit eines „Schulbegleiters“ war die Rede.
Im Dezember 2019 überwies die MHH Arne ans Deutsche Schmerzzentrum (DKSZ) an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln (Uni Witten/Herdecke). In diesem Jahr feiert man dort den 20. Geburtstag der Kinderschmerztherapie, jährlich werden inzwischen 1500 junge Menschen ambulant und 300 stationär behandelt.Bundesweit gibt es nur drei weitere ähnlicher Zentren.
Überfunktion der schmerzverarbeitenden Nervensysteme
Nicht einmal ein Jahr alt sind die jüngsten Patienten, 25 die ältesten. 80 Prozent von ihnen kommen aus einem Umkreis von 300 Kilometern, doch manche auch aus Bogota oder Sydney. Unter chronischen Kopf-, Bauch- oder Gelenk- und Muskelschmerzen leiden die meisten – Schmerzen, denen kein Organschaden zugrunde liegt, die sich dennoch nachweisen lassen; Schmerzen, die „erlernt“ sind, die sich fest ins Schmerzgedächtnis gefressen haben. „Das Problem“, erklärt Chefarzt Prof. Boris Zernikow, „ist meist eine Überfunktion der schmerzverarbeitenden Nervensysteme bei gleichzeitiger Unterfunktion der schmerzhemmenden Nervensysteme.“ Der Kinderarzt und Kinderonkologe war 2002 einer der ersten, die erkannten, dass solche kleine Patienten gezielt zu therapieren sind: In Datteln lernen die Kinder seither, den Schmerz zu verlernen.
Arne aus Isernhagen blieb zunächst eine Woche, später noch einmal einen ganzen Monat zur Schmerztherapie in der Klinik, erzählt seine Mutter. Zuvor musste sie mit ihrem Sohn einen langen Fragebogen ausfüllen und zur persönlichen „Erstvorstellung“ erscheinen. Ein Kinderarzt sowie eine Kinder- und Jugendpsychotherapeutin nahmen sich dabei zwei Stunden Zeit für die Anamnese. Dass von Anfang an beide Fachrichtungen („simultaneous interview“) dabei sind, sei wichtig, sagt Zernikow. Denn Schmerz sei nie „allein organisch oder psychisch“. Die beiden Experten hörten sich Arnes Leidensgeschichte „in aller Ruhe“ an, „sie hatten sogar schon die Arztberichte aus Hannover gelesen“, erinnert sich Lilly Homeyer. Als Sofortmaßnahme gegen das morgendliche Erbrechen riet man der überraschten Mutter: „Wecken Sie ihr Kind einfach nicht, lassen Sie es ausschlafen.“ Arne schlief bis zu 14 Stunden lang. Als er im Februar 2020 in Datteln stationär aufgenommen wurde, ging es ihm schon besser.
„Wir therapieren nie nur ein Kind, sondern immer die ganze Familie“
Abhängig vom „Schmerzschweregrad“ (nicht von der „Schmerzstärke“) entscheide man, wer ambulant und wer stationär therapiert werde. Kinder mit starken Beeinträchtigungen, die sich wegen ihrer chronischen Schmerzen einigeln wie Arne; die nicht mehr zur Schule gehen; ihre Freunde nicht mehr sehen wollen; ihre Freizeitaktivitäten aufgeben; die psychische Probleme entwickeln – solche Kinder werden stets aufgenommen, in der Regel für drei Wochen. „So ein Kind rein ambulant zu behandeln, wäre ein Verbrechen“, glaubt Zernikow.
Mindestens ein Elternteil sollte beim Erstgespräch dabei sein („Kinder reden ihre Probleme fast immer klein, sie wollen gefallen!“); während des Aufenthalts gibt es einmal wöchentlich „Familiengespräche“ mit allen (aus Sicht des Kindes) relevanten Bezugspersonen – was die Oma oder den neuen Partner der geschiedenen Mutter durchaus mit einschließt. Die Teilnahme ist verpflichtend. „Wir therapieren hier nie nur ein Kind, sondern immer die ganze Familie“, erläutert Zernikow. Es gehe dabei nicht darum herauszufinden, wer wie viel „Schuld“ habe an den Schmerzen. „Aber das Verhalten der Menschen, die für das Kind wichtig sind, ist mit entscheidend dafür, dass es ihm wieder besser geht. Wie zeigen, wie sie helfen können.“
Mit Superheldenkräften den Schmerz in den Griff bekommen
Für den kleinen Patienten selbst stehen Einzel- und Gruppengespräche an, großen Raum nimmt die Physiotherapie ein. „Bewegung ist wahnsinnig wichtig für Menschen mit chronischen Schmerzen“, betont Zernikow. Betroffene Kinder müssten die Freude daran aber meist erst wieder lernen, Bewegung falle ihnen schwer, sei für sie kontraintuitiv“. „Nicht selten kämen die Patienten im Rollstuhl oder sogar als Liegendtransport im Krankenwagen, erzählt Zernikow. Zu sehen, wie manche dieser Jungen und Mädchen nach kurzer Zeit wieder Fußball spielten – „das sind die schönsten, eindrucksvollsten Momente für unser Team hier“, so Zernikow.
Die Kinder verlassen die Klinik mit den Kontaktdaten von Ansprechpartnern und einer „Box voller Superkräfte“ – „selbstwirksamen“ Schmerzbewältigungsstrategien, die sie hier kennengelernt haben. Von Bauchatmung über Yoga bis zur mentalen Übung können sie sich herauspicken, was passt. Ziel ist nicht völlige „Schmerzfreiheit“, erläutert Zernikow, „das wäre weder möglich noch sinnvoll“. Ziel der Schmerztherapie ist es, die Beeinträchtigung, die mit dem Schmerz einherging, zu beseitigen. „Die Patienten sollen lernen, ihren Schmerz in den Griff zu bekommen. Und wir verstehen uns als Coach, der ihnen hilft, dafür die nötigen eigenen Super-Heilungskräfte zu aktivieren.“ (Weshalb es in dem alten Zechenhaus, in dem die Dattelner Schmerzambulanz ein Zuhause gefunden hat, im Übrigen von Superhelden-Bildern nur so wimmelt.)
Dattelns Erfolgsquote liegt mit 80 Prozent über der von Harvard
80 Prozent aller Patienten können sie in Datteln helfen. „Und damit liegt die Erfolgsquote dieser kleinen Ruhrgebiets-Klinik über der der Harvard Medical School“, freut sich Zernikow, der an der berühmten Elite-Uni in Boston studiert hat. Ehemalige Patienten, das zeigte gerade eine Langzeitstudie, haben sogar „signifikant bessere Resilienzstrategien als die altersgleiche Allgemeinbevölkerung“: Sie haben gelernt, sich von Problemen nicht unterkriegen zu lassen.
Arne besucht inzwischen die 6. Klasse der weiterführende Schule, „einer ganz normalen Gesamtschule“; er ist langsamer als andere, kommt aber prima zurecht; im letzten Jahr fehlte er nur neun Tage. Er hat noch immer täglich Kopfschmerzen und mit Übelkeit zu kämpfen, aber gelernt, damit umzugehen, „sich nicht zu ergeben“, wie seine Mutter sagt. Der inzwischen Zwölfjährige spielt Handball und reitet, geht zur Jugendgruppe der Freiwilligen Feuerwehr und hat gerade das Parkourlaufen für sich entdeckt. „Seit wir das DKSZ hinter uns wissen, geht plötzlich alles“, sagt Lilly Homeyer.