Essen. Wegen versuchten Totschlags am Nachbarn hatte sich der 62-Jährige verantworten müssen. Jetzt sprach das Gericht ihn frei. Notwehr.

Einen versuchten Totschlag hatte Staatsanwältin Birgit Jürgens dem Kaufmann Holger A. aus dem Essener Stadtteil Überruhr-Hinsel in ihrer Anklage vorgeworfen. Doch seine Messerstiche gegen den 74 Jahre alten Nachbarn waren als Notwehr gerechtfertigt, entschied das Essener Schwurgericht und sprach den 62-Jährigen frei.

Damit zog die XII. Strafkammer zumindest juristisch einen vorläufigen Schlussstrich unter einen seit Jahren schwelenden Nachbarschaftsstreit. Richter Simon Assenmacher warnte aber vor einer Fortsetzung des Streits, wenn der Freigesprochene nach fast sieben Monaten U-Haft in die Wohneigentumsanlage zurückkehrt. "Sie müssen eine Lösung finden", appellierte er an die beiden Streithähne.

Langjähriger Streit unter Nachbarn

Das wird nicht leicht. Schon am ersten Verhandlungstag hatte Assenmacher beide Männer gefragt, warum sie nicht weggezogen seien. "Die Wohnung ist so toll", hatte ihm der Angeklagte geantwortet. Und der 74-Jährige sah dafür keinen Anlasas: "Ich lasse mich doch nicht unterkriegen."

Was wirklich der Grund für die Streitigkeiten war, erschloss sich Außenstehenden nicht. Seit 30 Jahren wohnen beide in dem Mehrfamilienhaus in einer schmucken Wohngegend. Seit längerer Zeit gab es Anfeindungen, auch körperliche Attacken. Der Angeklagte nannte seinen Nachbarn im Prozess einen "Korinthenkacker". Der warf ihm wiederum vor, auf der Kellertreppe zu lange das Licht anzulassen. Dadurch falle die von allen Eigentümern zu zahlende Rechnung für den Hausstrom zu hoch aus.

74-Jähriger hielt Bootshaken in der Hand

Am 13. April eskalierte der Streit endgültig. Der Angeklagte war vom Einkaufen zurückgekehrt. Um seinem Nachbarn nicht zu begegnen, ging er durch den Garten zu seiner Wohnung. Doch da stand der 74-Jährige mit einem Bootshaken an einem langen Stiel in der Hand.

Das Gericht stellte fest, dass der Ältere mit dem Bootshaken zunächst nach dem Angeklagten gestochen und geschlagen habe. Der 62-Jährige wehrte sich, schlug mit seinen Einkaufstüten zu. Dann ergriff er sein Messer, das er in der Hand verborgen gehalten hatte. Das habe er immer dabei, hatte er gesagt. Warum, fragte der Richter. "Um mich gegen ihn verteidigen zu können."

Nachbar drohte zu verbluten

Das Gericht stellte auch fest, dass der Angeklagte fortgelaufen sei, der andere ihn aber verfolgt habe. Schließlich landeten beide im Beet mit den Koniferen. Fünfmal stach der 62-Jährige zu. Nachbarn trennten die Kontrahenten. Das rettete dem 74-Jährigen, der zu verbluten drohte, das Leben. So kam er rechtzeitig ins Uni-Klinikum.

Schon Staatsanwalt Shamgar Owusu-Ankomah, der die Anklage in der Sitzung vertrat, hatte in der Tat Notwehr gesehen und Freispruch beantragt. Nebenklage-Anwältin Alice Scaglione, die den Verletzten vertrat, forderte dagegen eine Verurteilung.

"Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, ..."

Verteidiger Volker Schröder beantragte ebenfalls Freispruch aus Notwehr und bemühte Dichter Friedrich Schiller: "Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt."

Aber diese Schuldzuweisung für den Konflikt wies das Gericht zurück. Assenmacher: "Beide wollten nicht nachgeben." Für die fast sieben Monate U-Haft wird der Freigesprochene finanziell entschädigt. 75 Euro gibt es pro Tag aus der Landeskasse.